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Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)

Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Gustmann
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und werden gute deutsche,
arische Herrenmenschen werden, aber dieses …, dieses Mädchen hier …«
    Der Vater
von Hedwig wies mit einer abfälligen Geste zu ihr hin. Beide vergaßen, dass sie
gesunde Ohren hatte und jedes Wort verstehen konnte, was gesprochen wurde, selbst
wenn sie sich tot stellte wie ein auf dem Rücken liegender Marienkäfer.
    Der Arzt
versuchte, seine Stellung als diensthabender Heimleiter professionell zu vertreten.
Er legte die Fingerspitzen wie zu einem Indianerzelt aneinander und malte sich aus,
er würde vor Studenten sprechen. Vor harmlosen, unbedeutenden Studenten.
    »Nun, wir
haben drei Möglichkeiten. Die erste ist, das Kind für lebensunwert zu erklären und
entsprechend zu verfahren. Die andere Option ist, ihren vollständigen Namen zu ändern
und sie zur Adoption freizugeben.« Reuter wandte sich dem Mädchen zu. »Es gibt viele
Eltern, die sich sehnlichst Kinder wünschen oder nach dem ersten keine mehr bekommen
können. Der Führer verlangt nach kinderreichen Familien, und es ist ein hübsches
Mädchen, obgleich sie nicht blond ist. Vielleicht verliert sich die Haarfarbe noch
und bleicht nach.«
    »Und die
dritte Möglichkeit?«, drängte der Besucher.
    »Nun, wir
könnten sie in eine Nervenheilanstalt einweisen und ein paar Tests mit ihr durchführen
lassen, um das Phänomen, mit dem wir es hier zu tun haben, näher zu erforschen.
Man könnte vielleicht herausfinden, wie sich derartige Mängel in der Entwicklung
künftig vermeiden lassen.«
    Der Offizier
dachte nach und wägte alle Möglichkeiten ab. Es durfte auf keinen Fall an die Ohren
der Obrigkeit gelangen, dass mit seiner Tochter etwas nicht stimmte. Man
würde Nachforschungen anstellen, und das musste um jeden Preis verhindert werden,
selbst wenn es dem Kind das Leben kosten würde.
    Der Arzt
wusste, dass der sicherste Weg in der Erklärung der Lebensunwertigkeit bestehen
würde. Eine gängige Praxis, deren Strafverfolgung nicht stattfand, zumindest nicht
zu jener Zeit. Das Kind würde auf ewig mit vielen anderen Behinderten oder Zurückgebliebenen
zum Schweigen gebracht werden.
    Eine, wenn
auch winzige, Gewissensregung hinderte ihn daran, diese Option sofort zu wählen
und die anderen Möglichkeiten zu verwerfen. Und so traf er eine Entscheidung. »Ich
denke, wir sollten versuchen, Ihre Tochter zur Adoption freizugeben.«
    Der Offizier
verengte die Augen und dachte nach. Diese Lösung würde bedeuten, dass die Kleine
am Leben bleiben würde. Wenigstens für eine gewisse Zeit. Er nickte, näherte sich
Reuter bis auf zehn Zentimeter und ließ ihn seinen bitteren Atem spüren. »Vernichten
Sie sämtliche Aufzeichnungen, Krankenakten, alles. Hauptsache, Sie verbergen das
auffällige Verhalten dieses Kindes. Diese Anfälle hat es nie gegeben! Sind wir uns
darin einig?«
    Reuter befreite
sich aus der Nähe dieses Menschen und trat einen Schritt zurück, doch der Kommandant
folgte ihm, als wäre er mit Reuters Hals durch ein unsichtbares Seil verbunden.
    Wieder drang
der Besucher auf ihn ein. »Falls eine Adoption unmöglich ist, lassen Sie sie in
eine entsprechende Fachklinik oder eine geschlossene Anstalt einliefern.«
    Dr. Reuter
begriff den Ernst der Lage. Sein Gegenüber war so mächtig, dass ihn ein falsches
Wort bei übergeordneten Instanzen ins KZ hätte bringen können, andererseits winkten
honorige Beförderungen, wenn er diese Sache im Sinne des Offiziers regeln würde.
    »Sie können
sich auf mich verlassen. Das Kind Hedwig Strocka hat es ab morgen nie gegeben.«
    Der Offizier
trat einen Schritt zurück. Er hatte erreicht, was er wollte. »Gut. Dann bin ich
erleichtert. Morgen in der Frühe lasse ich Ihnen neue Papiere für dieses Kind vorbeibringen.«
Strocka schlich ein letztes Mal an das Bett der Vierjährigen. Sie starrte nach wie
vor an die Decke, doch ihre Ohren waren weit geöffnet. Er sah sie an und wandte
sich sogleich wieder ab.
    In diesem
Augenblick löschte er die Existenz seiner Tochter in seinem Bewusstsein.
    »Bringen
Sie sie weit weg.« Der Offizier verzog angewidert sein Gesicht. »Ich will sie nie
wieder sehen.«
     
    Nachdem ihr Vater gegangen war,
schloss das kleine Mädchen die Augen. Tränen quollen unter den Lidern hervor. Sie
hatte gehört, was gesprochen wurde, erahnte jedoch nur die Bedeutung der Worte,
die über ihr weiteres Schicksal entscheiden sollten. Eine eisige Kälte war trotz
sommerlicher Wärme schlangengleich an Hedwigs Bett emporgekrochen und würgte so
lange ihren Hals, bis alle

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