Rattentanz
zurück auf die Asphaltlinie der Landstraße. Hier kam ihnen ein hellblauer Ford Escort entgegen, derselbe, der sie wenige Minuten zuvor überholt hatte. Der Fahrer winkte ihnen zu und fuhr davon.
Wenige Hundert Meter nach Mundelfingen änderte sich die Landschaft schlagartig. Die sanften Hügel und das frische Grün keimender Felder, kleine Waldgruppen und saftige Wiesen blieben zurück und ihr Weg führte sie in steilen Kurven hinab in die Wutachschlucht. In vielen Jahrtausenden hatte Wasser einen hier einhundertsiebzig Meter tiefen Canyon in die Erde gegraben. Dichte Buchen-und Tannenwälder schluckten die schmale Straße, es wurde angenehm kühl und Beck genoss sichtlich, dass ihm der schwer beladene Handwagen nun fast von allein folgte.
Eva freute sich, dass sie so gut vorankamen. Vier Kilometer in etwas über zwei Stunden schienen ihr – in Anbetracht der Last, die Beck unbedingt allein ziehen wollte und der Tagträumerei ihres anderen Begleiters – ein ganz annehmbarer Schnitt. Außerdem waren da noch ihre Schwangerschaft und ein fast leerer Magen.
»Warum geben Sie – gibst du – den Handwagen nicht auch mal uns? Deine Hand … hast du keine Schmerzen?«
Natürlich hatte er Schmerzen, aber im Gegensatz zu Ritters infizier ter Wunde (die ihm inzwischen hoffentlich schon einen raschen Abflug in eine gerechtere Welt verschafft hatte!!!) waren die Schnittwunden in seiner rechten Hand in Ordnung. Dank Dr. Stillers Hilfe verheilten sie langsam, ohne sich zu entzünden. Beck konnte sogar wieder halbwegs durch sein rechtes Auge sehen und die Blutergüsse an Auge und Nase schwollen langsam ab.
»Geht schon«, antwortete er schließlich und ließ sich den Frühling ins Gesicht wehen. Es roch würzig nach Bärlauch. Die Grünschattierungen des Waldes erschienen ihm fremd, eine andere Welt. Wann war er zuletzt durch einen Wald gegangen? Er überlegte, konnte sich aber nicht erinnern. Vielleicht vor fünf Jahren oder sechs, vielleicht war es auch noch länger her.
Die Straße schlängelte sich immer steiler bergab. So auf der unterbrochenen weißen Linie in der Fahrbahnmitte dahinzumarschieren war ungewohnt, etwas Verbotenes. Anfangs hatte er seinen Handwagen korrekt ganz eng an der rechten Straßenseite entlang gezogen, immer auf der Hut vor vorbeijagenden Fahrzeugen, noch ganz Polizist. Aber die wenigen Fahrzeuge, denen sie begegneten, fuhren ausnahmslos langsam, sie schlichen fast. Seit unter anderem nun auch die Tankstellen geschlossen hatten, war jeder Tropfen Benzin ein wahrer Schatz und jeder unbedachte Tritt auf ein Gaspedal bedeutete einige Meter weniger Fahrt. Also machte Beck es irgendwann den wenigen anderen Fußgängern nach und benutzte ganz selbstverständlich die Fahrbahnmitte. Es machte fast Spaß.
War es vielleicht doch keine Katastrophe? Er sah sich um und entdeckte Dinge und Farben, die er bis dahin nur im Fernsehen gesehen hatte: Schmetterlinge und Vögel, den Schatten eines Fuchses, der weit hinter ihnen im Dickicht verschwand. Und Orchideen.
Joachim Beck blieb plötzlich stehen. Eva, die völlig in Gedanken hinter dem Handwagen her trottete und dabei den Blick auf das Grauweiß der Mittellinie gerichtet hielt, stieß mit dem Schienbein gegen den Wagen.
»Au! Warum bleibst du denn stehen?« Sie bückte sich und griff sich ans Bein. »Was ist lo…?«
Dann sah sie den Grund für Becks abruptes Bremsmanöver.
In der spitzen Haarnadelkurve, die vor ihnen lag, standen die Überreste eines Reisebusses. Der Bus, ein Mercedes-Benz Eurostar, war vor zwei Tagen ungebremst in die Leitplanke gerast und hatte Feuer gefangen. Der Fahrer hatte unglücklicherweise in dem Moment festgestellt, dass weder Autoradio noch Navigationssystem noch sein Handy funktionierten, als die Spitzkehre vor ihm auftauchte. Ein weiterer kurzer Augenblick Unaufmerksamkeit reichte dann. Ein nachfolgender Lkw war in den Bus gerast und hatte diesen wie eine Barrikade quer auf die Straße geschoben und war selbst in die Tiefe gestürzt. Links eine steil aufragende Felswand, rechts ein fast senkrechter Abhang, über den das Fahrerhaus des Busses jetzt fast sechs Meter hinausragte. Der Lkw hatte den vierzehn Meter langen Dreiachser auf die Seite geworfen und das Hinterteil dabei im Fels verkeilt. Ein Weiterkommen, am Bus vorbei, schien somit ausgeschlossen. Von den fast vierzig Passagieren war weit und breit nichts zu sehen.
Thomas ging langsam an Eva und Beck vorbei. Er ging zu den vom Feuer im Asphalt verschweißten
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