Rattentanz
Männer und der Rauch. Aber das Gefühl, dass sie etwas oder jemand am Handgelenk hielt, blieb. Ihre kleine Taschenlampe, die sie aus dem Krankenhaus mitgenommen hatte, half ihr beim Sehen: Thomas war in der Nacht herübergekommen. Eigentlich sollte er wie Beck unter einer wollenen Decke auf dem Küchenboden schlafen. Er war durch die dunkle Wohnung gekommen und hatte sich neben Eva gelegt. Im Schlaf hatte er nach ihr gegriffen. Und sie aus ihrem Albtraum gerettet.
Indem sie Thomas’ Finger vorsichtig löste, zerfiel auch der Traum, er nahm seine Finger von ihr und hinterließ eine unbestimmte Angst. Wie Fingerabdrücke als Beweis seiner kurzen Existenz. Angst vor dem, was der kommende Tag bringen würde. Angst vor einer Welt, die sie nicht mehr wiedererkannte. Sie fürchtete sich vor der morgigen Reise und vor dem, was zu Hause vielleicht auf sie wartete. Diese Welt war plötzlich gefährlich geworden. Die Menschen waren gefährlich geworden, weil sie Angst hatten. Unsicherheit waberte über allem, und jeder – mochte er, wie die Männer an der Bahnlinie, auch noch so selbstsicher und martialisch auftreten – strahlte Verwirrung und Orientierungslosigkeit aus. Aber Thomas hatte sie aus ihrem Traum gerettet.
Sie wusste nicht, was aus ihrem seltsamen Begleiter werden sollte, wer er war und was ihn bedrückte. Er wirkte krank und unbeholfen, aber vielleicht lag dies auch an den langen Stunden in seinem Gefängnis. Er musste Furchtbares durchgemacht haben, so allein und abgeschlossen in einem dunklen Kasten. Während ihres Fußmarsches hierher war er manchmal einfach stehen geblieben und hatte gelauscht, auf den Gesang der Vögel vielleicht, deren Klang ihr heute reiner und klarer erschienen war. Vielleicht suchten seine Ohren auch die fehlenden Geräusche von Autos und Flugzeugen, hatte Beck gemutmaßt. Von Zeit zu Zeit hatte Thomas vor sich hin gemurmelt und abgebrochen, wenn er merkte, dass Eva oder Beck ihn beobachteten.
Eva setzte sich auf. Die Fäden der Angst, die ihr Traum um sie gewoben hatte, spannten sich. Sie wollte nicht allein sein. Sie schmiegte sich an Thomas, ganz vorsichtig, um ihn ja nicht zu erschrecken, ihn nicht zu wecken.
Nach wenigen Minuten griff Thomas’ Hand nach ihrem Arm und zog ihn unter seinen Kopf. So entfernte er das Spinnwebengeflecht der Angst von Eva. Keiner war allein. Eva schlief in Thomas’ Armen und wünschte sich, dass es Hans’ Arme wären.
Hermann Fuchs drückte das Küchenfenster eines kleinen Bauernhauses auf. Er fror, Feuchtigkeit klebte in seinen abgetragenen Kleidern und sein Magen war ein riesiges, knurrendes Etwas, das nur darauf lauerte, gefüttert zu werden. Er hatte nicht vorgehabt, jemandem etwas anzutun, aber als der alte Mann plötzlich vor ihm stand und ihm mit einer alten Taschenlampe direkt ins Gesicht leuchtete, konnte er nicht anders, er musste zuschlagen. Wäre der Alte doch in seinem Bett geblieben! Er musste lange zuschlagen, bevor der andere endlich Ruhe gab und seine Arme schlaff von Fuchs’ Hals abrutschten. Doch dann konnte er sich endlich ums Wesentliche kümmern! Er fand einen großen Schinken, dazu Brot, wenn auch nicht mehr ganz frisch, und mehrere Flaschen Bier. Und, vielleicht hatte er doch eine Glückssträhne, der Alte hatte dieselbe Kleidergröße wie er!
Er zog sich um, Unterwäsche, Socken, eine derbe Arbeitshose, ein Hemd und einen Pullover und wurde, indem er seinen fahlen Mantel um sich legte, doch wieder zu Hermann Fuchs. Seine alten, stinkenden Kleider warf er unter das Bett des Mannes. Dann legte er sich im Wohnzimmer auf eine schmale Couch, öffnete die zweite Flasche Bier und zündete sich endlich eine Zigarette an! Er inhalierte tief und genoss den leichten Schwindel, den diese erste Zigarette seit fast zwei Tagen bei ihm hervorrief. In diesem Augenblick war er glücklich. Vielleicht, ging es ihm durch den Kopf, vielleicht war es jetzt wirklich an der Zeit, dass auch er, der Penner und Verlierer, einmal Glück haben sollte. Wenn alles aus den Fugen geriet, konnte man es dann nicht wieder neu zusammensetzen? Und zwar so, wie es einem selbst gefiel? Wer sagte, dass er in dieser neuen Welt weiterhin der Getretene bleiben musste? Er hatte tatsächlich Glück gehabt in den letzten Tagen und Stunden: zuerst sein Beutezug in der Bank, dann, dass er als Einziger in dem kleinen Operationssaal überlebt hatte und schließlich die völlig unerwartete Befreiung. Und dies hier, nicht zu vergessen!
Er blies kleine Rauchwölkchen in
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