Rattentanz
Lena auf, die noch immer wie ein beinloser Buddha nackt vor ihm saß. »Sonst komm ich nicht zwischen die Falten am Bauch und untenrum.«
Die ersten Male hatte er sie noch in der Annahme gewaschen, sie sei zu schwach, um es selbst ordentlich zu erledigen. Heute war es Rou tine, aber eine Routine, die ihn von Tag zu Tag mehr abstieß. Dies hier, die morgendliche und abendliche Ganzkörperwaschung, das Einlegen der Tücher, manchmal noch etwas Puder oder Salbe, dies waren seit dem Unfall die einzigen intimen Berührungen ihrer Beziehung. Er wusste nicht mehr, wie Küsse schmeckten, wollte sie auch nicht mehr. Und aus ihr war seit dem Unfall jedes zärtliche Gefühl für ihren Mann verschwunden. Er trug die Schuld an dieser Katastrophe, die Schuld an dem, was sie heute war, wie sie aussah, dachte und sprach. Er hatte es nicht anders verdient. Die Frau zu pflegen, deren Leben er auf dem Gewissen hatte, war ein mehr als gerechter Preis, den er gefälligst zu zahlen hatte. Zuerst dieses andere Weib, die Lenas Liebe mit sich nahm, dann noch beide Beine.
Henning Malow bedeckte ihre von den Stümpfen eingerahmte Scham mit dem Handtuch. Dann ging er in den Flur, um ein frisches Nachthemd zu holen.
Als Henning Malow zurückkam, schlief Lena. Splitternackt lag sie vor ihm, den Mund zur Hälfte geöffnet. Sie atmete schwer. Ihre Brüste fielen links und rechts zur Seite. Manchmal zuckten ihre Stümpfe, wie bei einem schlafenden Hund, der im Traum einer fliehenden Katze nachjagt. Er hatte es schon oft beobachten können. Müssen. Wem oder was mag sie wohl nachjagen, fragte er sich und knetete das Nachthemd in der Hand.
Sie wird sich erkälten, sagte eine Stimme in ihm.
Und wenn schon, antwortete eine andere. Und wenn schon. Sie war ihm egal, diese Frau.
Seine Frau. Er ekelte sich vor ihr und davor, sie zu berühren. Und doch musste er es tun, jeden Tag, morgens und abends. Jede Woche vierzehn Mal. Jeden Monat sechzig Mal. In jedem Jahr siebenhundertdreißig Mal, seit siebenundzwanzig Jahren. Nie ein freier Tag, immer zu ihrer Verfügung. Er hatte Schuld auf sich geladen, das wusste er. Wenn nicht, könnte er dieses Leben niemals ertragen. Aber, fragte er sich in letzter Zeit immer öfter, kann man eine Schuld nicht begleichen oder verzeihen? Nein! Er schüttelte den Kopf und sein Blick blieb an ihren schmalen Lippen hängen. Diese Schuld würde er niemals begleichen, nicht in hundert Leben. Lena würde nicht zulassen, dass er ihr aufrecht in die Augen sah, ohne diese versklavende Last auf seinen Schultern. So lange er bei ihr war und sie bei ihm, so lange würde sie alles daran setzen, dass er stets vor Augen hatte, was er ihr angetan hatte. Aber war das da im Bett wirklich noch seine Frau? Rein äußerlich deutete nichts mehr auf die fröhliche junge Frau hin, die er einst geheiratet hatte. Und ihr Inneres war längst ausgebrannt und kalt.
Dies war nicht Lena. Nicht mehr.
Was war es, das ihn so weit von ihr entfernt hatte? Er selbst war es, musste er sich eingestehen. Nur er. Er hatte mit einem Vorschlagham mer ihre Beziehung zerstört, damals, vor inzwischen einem halben Menschenleben, als er der Versuchung erlegen war und das erste Mal an Brigittes Tür geklopft hatte. Den Scherbenhaufen hatten sie gemein sam aufgelesen und neu zusammengeklebt – ein Puzzle, das so gar nicht mehr passen wollte. Aus dem ehemals runden Spiegel entstand ein rissiges Etwas mit Kanten und leeren Stellen und Ecken, an denen man sich bei der kleinsten Berührung tief ins Fleisch schnitt, schon beim ersten falschen Wort. Sah einer von ihnen in diesen Spiegel ihrer Beziehung, starrte eine bruchstückhafte Maske zurück. Sie hatten es nicht geschafft, danach zu einem normalen Leben zurückzufinden. Es waren schweigsame Jahre und Henning Malow war nur geblieben, weil er sich schuldig fühlte, ein Gefühl der Ohnmacht. Und dieses Gefühl verhalf Lena zu ihrer Macht über ihn. Lena nutzte diese Macht anfangs nie aus. Eigentlich war es erst der Unfall, der aus ihrer traurigen, verletzten Seele geformt hatte, was sie heute war: ein monströses Kind, das beim geringsten Widerstand unverzüglich die Waffe seiner Schuld ausgrub und ihm unter die Nase hielt.
Henning Malow betrachtete seine schlafende Frau. Aus ihrem Mundwinkel hing ein dünner Speichelfaden und tropfte auf das schweißnasse Laken. Später, wenn sie wieder wach war und in ihrem frischen Hemd steckte, würde sie ihren eigenen Schweiß wahrnehmen, den Geruch der Nacht, der im Laken hing.
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