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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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Sie würde Henning rufen und er musste dann das Bett frisch beziehen. Wie einen Sack Mehl, einen großen, sehr großen Sack Mehl, musste er Lena dann zuerst ans Fuß-und anschließend ans Kopfende des Bettes zerren, sie auf diese, dann auf die andere Seite rollen und dabei selbst schwitzen wie ein Boxer in der zwölften Runde. Er wusste inzwischen so genau, wie die Tage – wie sein Leben – verlaufen würde. Überraschungen gab es keine mehr, nicht einmal eine kleine Abweichung vom Normalen. Lena ließ dies niemals zu. Und sollte er es doch einmal wagen, sollte er stöhnen oder sie bitten, etwas mehr mitzuhelfen, würde sie das Damoklesschwert seiner Vergehen hervorholen. Es lag immer griffbereit neben ihr, vielleicht sogar in ihr, zwischen ihren Stümpfen, wo er vor fast drei Jahrzehnten zuletzt gewesen war. Sie ließ das Schwert aufblitzen und schwang es über seinem Kopf und er wurde kampfunfähig und ganz klein. Eben schuldig.
    Malow legte das Nachthemd neben ihr aufs Bett. Dann wandte er sich ab, ging durch die Küche in den Flur und stieg die schmale Treppe hinauf, die ihn in sein Zimmer führte. Hier war er allein und bei seinen Büchern. Jederzeit konnte es gegen den Boden klopfen und er würde ihre schrille Stimme hören und zu ihr hinabmüssen, um sich um sie zu kümmern und seine niemals enden wollende Schuld abzutragen. Das war sein Leben.
    Ein Leben?
    Er starrte aus dem Fenster über den See und die anschließenden Wälder. Irgendwo dort hinten lag der Hafen. Und damit Deutschland. Seit seiner Pensionierung war er nicht mehr dort gewesen. Würde sie eine Rückkehr jemals zulassen? Ihm wurde mit einem Mal klar, dass es schon seit Jahren nicht mehr darum ging, was er wollte. Danach wurde nie gefragt. Auch nicht, wie es ihm ging, was er sich wünschte, wonach er sich sehnte. Schließlich war er schuldig und verurteilt und teilte ein Haus (seine Zelle) mit seinem Henker. Entscheidungen fällte er schon seit Jahren nicht mehr.
    Unten im Wohnzimmer wälzte sich Lena auf die andere Seite. Bis hierher war das Quietschen des Bettes und ihr Grunzen zu hören. Hen ning zuckte bei diesem Geräusch zusammen wie ein ertapptes Kind. Gleich würde sie rufen. Gleich musste er zurück zu ihr.
    Er sah sich im Zimmer um. Das hier war alles. Sein Reich. Er ging an das Regal mit den Reiseführern und nahm den zerlesenen Fremdenführer von Rom heraus. Niemals würde er die ewige Stadt erblicken, niemals. Es sei denn …
    Während ihr Stumpf im Traum zuckte und sie das Skalpell spürte, mit dem die Ärzte das Fleisch um ihren Oberschenkelknochen freilegten, packte Henning Malow das Wenige, das er brauchte, in einen kleinen Wanderrucksack: Reisepass und Führerschein, einmal Wäsche zum Wechseln, seinen Marco Polo Städteführer Rom, Zahnbürste und ein paar Vorräte, um über die nächsten Tage zu kommen.
    Während sie das Geräusch der Säge noch einmal hörte, jedes Wort der Ärzte und Schwestern verstand, ging ihr Mann aus dem Haus. Er ging, ohne sie noch ein letztes Mal anzusehen. Er verließ eine fremde Frau. Er stieg in den altersschwachen Suzuki und zog die Tür ins Schloss. Dann drehte er den Zündschlüssel um, gab Vollgas und raste ohne einen Gedanken oder Blick nach hinten davon, raste zurück in sein Leben. Und mit jedem Meter, den er sich von diesem Haus entfernte, strafften sich seine Schultern, polterte die Last seiner Schuld rechts und links in den Wald. Es war vorbei, die Schuld war abgetragen.
    Nach wenigen Hundert Metern war er ein freier Mann. Jetzt saß endlich wieder Henning Malow hinter dem Lenkrad seines Lebens. Das erste Mal seit siebenundzwanzig Jahren.

71
    15:41 Uhr, bei Trelleborg, Südschweden
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    Ein Helfer! Wenn nur irgendjemand hier wäre, der mit anfasst!
    Hans Seger fühlte Tränen in sich aufsteigen. Sollte die ganze Mühe wirklich umsonst gewesen sein? So kurz vor dem Ziel? Salzwasser plätscherte nur zwei Meter vom Holzrumpf entfernt gegen den Strand.
    Wo waren nur all die Menschen? Versteckten sie sich in der Stadt? Sollte er hingehen und sie suchen, um Hilfe bitten? Aber wer sollte ihm helfen? Seit Tagen ohne Strom, Wasser und Kommunikation, hatten die Menschen andere Probleme. Eigene Probleme. Wen interessierte da schon ein Deutscher, seine Hilflosigkeit und sein Heimweh? Hans versuchte ein Lächeln und vergrub die Hand im Sandboden. Je der musste zusehen, wie er sich und die, die ihm wirklich wichtig wa ren, am Leben erhielt. Klang surreal: am Leben halten.
    Hatte auch nur ein

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