Rattentanz
Lena. Sie hielt ihm ihre leere Tasse hin, die er nahm und in die Küche trug. Dort schüttete er etwas Wasser in einen Topf und stellte ihn auf den Kocher. Das Wasser hatte er aus dem See geholt. Sie liebte es, sich mit heißem Wasser zu waschen. Waschen zu lassen. Malow zündete ein Streichholz an und hielt es an den Herd. Er zögerte.
»Geht es nicht auch mit kaltem Wasser? Wenigstens, bis ich aus der Stadt eine neue Gasflasche geholt habe? Oder unser Elektroherd wieder funktioniert?«
»NEIN«, kreischte Lena. »Ich will heißes Wasser!«
Ihr Haus am See war klein, nur die Küche und zwei enge Zimmer. Wo eigentlich das Wohnzimmer hätte sein sollen, standen ihr Bett und der Fernseher, oben unter dem Dach schlief er zwischen Bücher-stapeln und Landkarten. An den dreieckigen Stirnseiten seines engen Reiches hatte er sich Bücherregale gebaut, die längst überquollen. Seit ihrem Unfall blockierte Lena das Wohnzimmer und bestimmte das Fernsehprogramm. Und so hatte er sich zurückgezogen und getan, was er seit seiner Kindheit nicht mehr getan hatte: gelesen. Brauchte sie ihn, schrie sie oder klopfte mit einem Besenstiel, der immer griffbereit neben dem Bett stehen musste, gegen die hölzerne Zimmerdecke. Ein Geräusch, das er zu hassen gelernt hatte, bedeutete es doch, dass er zu ihr gehen, sie ansehen, vielleicht sogar berühren musste. So wie jetzt. Wie jeden Morgen und jeden Abend wollte sie von ihm gewaschen werden.
Er nahm zwei frische Waschlappen aus dem Kleiderschrank im Flur und ein Handtuch vom Haken.
Wie gern wäre er allein, allein mit seinen Büchern über fremde Länder, über das Kolosseum und die alten Römer. Allein mit den Landkarten und Atlanten. Allein, nur nicht hier, nur nicht bei ihr!
Als das Wasser die von ihr geliebte Temperatur erreicht hatte, füllte er es in eine hellgrüne Plastikschüssel, nahm Handtuch und Lappen und ging nach nebenan.
»Und die Seife?«
»Richtig.«
»Wenn ich nicht an alles denke.«
Wie jeden Morgen half er seiner Frau aus dem verschwitzten Nachthemd.
»Es ist pitschnass«, kommentierte sie.
»Du hast schlecht geträumt.« Er legte das Hemd ans Fußende über die hohe Lehne des Holzbettes. »Willst du es heute Abend wieder anziehen? Wir haben nicht mehr viel frische Wäsche.«
»Wasch doch unten am Steg«, antwortete Lena. »Ging ja früher auch.«
»Und die Fische?«
»Die werden das bisschen Waschpulver schon verkraften.« Sie schloss die Augen und streckte ihm das Gesicht hin.
Sie dazu aufzufordern, die Körperteile, an die sie selbst problemlos herankam, allein zu waschen, hatte er schon seit Jahren aufgegeben. Sie wollte es nicht und basta! Das war die Strafe für diese eine Nacht, für den Unfall und seine eigene Rettung. Vielleicht war es das, was sie ihm verübelte – sie ein Krüppel und er kerngesund gerade noch aus dem Wagen gesprungen. Geflohen, ohne sie zu retten. Aber hätte es eine realistische Chance gegeben, sie vor dem Aufprall aus dem Auto zu holen? Wären sie dann nicht beide umgekommen oder wenigstens schwer verletzt? Fragen, die er sich immer wieder stellte. Fragen, die hier und heute keiner beantworten konnte.
Er seifte ihr Gesicht ein und musste sie dabei wohl oder übel ansehen. Was war aus ihr geworden? Wie viele Jahre waren vergangen, seit sie jung und schlank war? Und er konnte sich auch an eine ferne Zeit erinnern, in der diese Frau einmal schön war. Nicht hübsch, aber schön. Mit glatter Haut und lächelnden Augen und vollen, lachenden Lippen.
Seit Brigittes Brüsten war zuerst Lenas Lächeln verschwunden, dann das Leuchten ihrer Augen. Die Lippen wurden dünner und dünner, zuletzt nur noch schmale Striche. Ihre Augen waren heute trüb und ihre Haut, bis auf eine steile Falte auf der Stirn, straff gespannt vom Fett, das sich darunter ansammelte. Sie beugte den Kopf, damit er ihren Nacken abtrocknen konnte.
Einzig ihr Haar schien beinahe unbeschadet all die Jahre mit ihm überstanden zu haben. Fast wie am ersten Tag war es sanft gewellt und von diesem unnatürlich leuchtenden Kastanienbraun, das ihn schon als Kind zu dem kleinen Mädchen von nebenan hingezogen hat te. Nur trug sie es seit dem Unfall kurz und seit ein paar Jahren schimmerten graue Haare wie Silberfäden dazwischen.
Henning wusch einen Arm nach dem anderen, dann den Rücken und die schweren Brüste, unter die er, wie auch in den Leisten, am Bauch und unter den Armen, Tücher legte, damit sie nicht wund wur de.
»Rutsch ein Stück runter«, forderte er
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