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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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geschehen war. Wenn überhaupt etwas geschah. Sie waren schon zu lang zusammen, um nach Malows Ausflug auf andere Weidegründe ihrer Beziehung einen wirklichen Neuanfang geben zu können. Und sie waren schon zu lang zusammen, als dass sie sich ein Leben ohne den anderen noch hätten vorstellen können. Den Mut zu einem neuen Leben hatten. Alles verlief in ruhigen, einschläfernden Bahnen, unbemerkt, still und leise. Bis zu Hermanns vierzigstem Geburtstag. Seitdem war alles anders.
    Henning Malows älterer Bruder liebte große Feste. Er liebte es, im Mittelpunkt zu stehen und das stand er in dieser Sommernacht ganz bestimmt! Alles drehte sich um ihn (Was? Vierzig? Das glaubst du doch selbst nicht! Höchstens fünfunddreißig! Höchstens!), alle liebten und bewunderten ihn. Am meisten Henning. Er vergötterte seinen älteren Bruder, dessen Art, sein Aussehen, seinen Erfolg bei den Frau en. Obwohl Lena ihren Mann seit Mitternacht zum Gehen gedrängt hatte, war er erst bereit das Fest zu verlassen, als der Jubilar, voll wie ein Kampftrinker, schlafend neben der Festtafel lag. Henning Malow trug ihn in sein Bett, zog dem Bruder die Schuhe aus und setzte sich anschließend zu Lena in den Wagen. »Angetrunken, das schon. Aber bestimmt nicht betrunken«, diktierte er später der Polizei ins Protokoll.
    Er erinnerte sich an die gesamte Fahrt. Lena hatte neben ihm aus dem Fenster gestarrt. Ab und zu musste sie eingeschlafen sein, denn zweimal sah sie ihn ganz überrascht an und fragte: »Was, wir sind schon hier?«
    Er hatte an seinen Bruder gedacht und an seinen eigenen Vierziger in zwei Jahren.
    Kurz nach halb drei war er auf den Bahnübergang gefahren, wie schon Dutzende Male zuvor, wenn er auf dieser Strecke unterwegs war. Der Übergang hatte nichts Besonderes, eine Straße eben, die eine schnurgerade Bahnlinie kreuzte. Schranken gab es keine, nur ein verbogenes Andreaskreuz und ein Warnlicht, das in dieser Nacht rot blinkte.
    Henning war langsam herangefahren (Ich habe sogar angehalten!) und, als er weder rechts noch links die Lichter eines nahenden Zuges erkennen konnte, hatte er Gas gegeben und war auf die Gleise gefahren.
    Im Nachhinein konnten weder die Polizei noch ein hinzugezogener Sachverständiger am Auto einen Grund für den unerklärlichen Halt auf den Gleisen feststellen. Der Wagen, vor allem Front und Beifahrerseite, waren bis zur Unkenntlichkeit demoliert. Ein Wunder, dass Lena überhaupt überlebt hatte.
    »Ich weiß nicht«, hatte Malow in dieser Nacht den Polizisten erzählt, während zwei Ärzteteams um Lenas Leben kämpften, »ich weiß
    nicht, warum der Wagen stehen blieb. Vielleicht ist er einfach ausgegangen oder ich bin in einem falschen Gang angefahren oder von der Straße abgekommen und in die Gleise gefahren.«
    »Sind Sie sicher, dass Sie den Motor nicht absichtlich mitten auf dem Bahnübergang abstellten?«
    Das Gefühl, dass einen überkommt, wenn man vollkommen unvorbereitet mit einem, für sich selbst, völlig abwegigen Verdacht konfrontiert wird, packte ihn heute noch mit gierigen Fingern. Immer dann, wenn Lena ihn so seltsam betrachtete. Dann schien sie zu überlegen, ob es nicht doch Absicht gewesen war, damals, in dieser elenden Nacht. Dann fühlte er sich allein, hilflos – ein Katzenjunges, kurz, be vor es an die Wand geworfen wird. Die Polizisten fanden keine stichhaltigen Indizien für eine versuch te Tötung. Also blieb es bei einer Geldstrafe, drei Monaten Führerschein entzug und ein paar Punkten in Flensburg sowie einem schrottreifen Wagen.
    Und einer Frau ohne Beine.
    Das rechte Bein hatten sie ihr noch in der Unfallnacht amputiert, das linke folgte zwei Tage später. Der Aufprall hatte ihr Becken zertrümmert und Beine und Unterleib derart zusammengepresst, dass fast alle Nerven, Sehnen und Blutgefäße zu einem unansehnlichen – und vor allem unbrauchbaren – Knäuel verklumpten. Um sie vor dem Verbluten zu retten, mussten sie ein Bein sofort abnehmen. Am anderen konnten sie die Blutungen zwar stillen, nicht aber die Blutversorgung des Beines wieder herstellen. In den folgenden Stunden wur de dieses linke Bein zuerst kalt, dann blau und war schließlich nicht mehr zu retten. Wie ihre Gebärmutter und ein großer Teil der Blase auch. Einen Schlauch, den sie ihr durch die Bauchdecke in die Blase legten, trug sie bis heute.
    Henning hatte sie die drei Monate, die Lena in verschiedenen Krankenhäusern verbrachte, jeden Tag besucht. Wenn er Frühschicht hatte am Abend, bei

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