Rattentanz
Spätschicht am Morgen und, hatte er Nachtschicht, war er zweimal an ihr Bett gekommen. Er fühlte sich schuldig, fühlte es sich bis heute und sie tat nie das Geringste, um ihm dieses Gefühl zu nehmen. Im Gegenteil – ihre Augen sagten ihm immer wieder, dass er allen Grund hatte, sich schuldig zu fühlen, dass er der gottverdammte Mistkerl war, der Schuld daran hatte, dass sie nie wieder laufen konnte, niemals Kinder bekommen würde und nie wieder normal pinkeln könn te! Und ihre Augen sagten auch, dass sie ihn von diesem Gefühl niemals befreien würde.
Seit sie das Krankenhaus hatte verlassen dürfen, pflegte er sie. Ei nen mobilen Pflegedienst lehnte sie immer ab. Er kochte nach ihren Instruktionen, er putzte und las ihr vor, denn obwohl sie Augen wie ein Adler hatte, verlangte sie, dass er sich neben ihr Bett setzte und die Überschriften der Zeitung zitierte. Fand sie eine Schlagzeile interessant, ließ sie sich den gesamten Artikel vorlesen. Mit besonderer Vorliebe Samstagabend, wenn im Fernsehen Fußball kam. Und Henning tat, was sie wünschte. Er war schuld, dass sie sich ihre Wünsche nicht selbst erfüllen konnte.
Seit dem Unfall waren jetzt siebenundzwanzig Jahre vergangen. Lange Jahre. Und einsame.
»Wo bleibt mein Zucker?!«
In den letzten Jahren war Lenas Stimme schrill geworden, vor al lem, wenn sie ihren Mann an etwas erinnern musste. Sie hasste es, wenn er sie warten ließ! Er wusste doch genau, dass sie es sich lieber selbst holen würde, wenn sie nur könnte!
Jetzt hörte er diese Stimme wie aus einer anderen Welt herüberschwappen, einer Welt, die er schon längst verlassen hatte, nur sein Körper war noch anwesend. Dieser Körper verharrte hier im Haus und bei ihr, bei Lena, die ihn schon lange nicht mehr an das Kind erinnerte, das er im Sandkasten mit Kastanien beworfen hatte. Sie, die immer schlank gewesen war und auf sich geachtet hatte, war heute fett. Den Rollstuhl, den ein Herr von der Krankenkasse vorbeigebracht hatte, benutzte sie nie. »Denkst du, ich lasse mich von dir wie einen Krüppel durch die Stadt kutschieren, damit mich alle begaffen?« Sie war ein Krüppel. Damals wie heute. Heute aber war sie ein fetter Krüppel, der nicht mehr in den Rollstuhl gepasst hätte, selbst wenn sie es gewollt hätte.
Er musste sich vom Fenster, dem Anblick seines Kleinwagens vor der Tür und seinen Träumen losreißen. Hätte er bei Brigitte und ihren Brüsten bleiben sollen? Hätte er mit ihr Kinder haben können?
Seit dem Stromausfall wurde das Gefühl, ihr Gefangener und Skla ve zu sein, immer stärker. Das Telefon funktionierte nicht und ohne funktionierendes Telefon wollte sie ihn nicht aus dem Haus lassen. Dann wäre sie völlig allein und hilflos. Hilflos. So hilflos wie er?
Malow brachte seiner Frau den Zucker und zeigte ihr die leere Vorratsdose.
»Dann trinken wir den Kaffee eben ohne Zucker. Kaffee haben wir doch noch?« Henning nickte.
»Aber das Gas ist bald alle. Morgen. Spätestens übermorgen.«
Lena schwieg und starrte an die Wand. Ein kleines Mädchen, mit vor dem inzwischen üppigen (fetten) Busen verschränkten Armen. »Du fährst nicht in die Stadt!« Sie zischte. Eine angriffslustige Schlange.
»Wenn du nicht willst …« Malow ließ den Satz unvollendet, setzte sich neben sie und las ihr, wie seit einer Woche jeden Morgen, die Schlagzeilen vom 23. Mai vor. Diese Zeitung war die letzte Nachricht aus einer Welt, die es vielleicht schon nicht mehr gab.
»Bring mir meine Tabletten.« Gehorsam nahm er die neben ihrem Bett stehende Medikamentenbox, in der er ihre Herz-, Zucker-und Cholesterintabletten immer für eine Woche vorrichtete und schüttete ihr die Morgenration in die hingehaltene Hand.
»Die Blutzuckertabletten sind morgen alle.«
»Trifft sich gut«, erwiderte sie. »Wozu Zuckertabletten, wenn wir keinen Zucker mehr haben?«
»Und die Herztabletten in drei Tagen.«
»Bis dahin funktionieren die Telefone wieder!« Sie versuchte selbst sicher zu klingen, aber Henning entging das Zittern ihrer Stim me nicht.
»Das hast du vor vier Tagen schon behauptet und vor zwei Tagen und gestern.«
»Bin ich hier der Elektriker im Haus oder du? Du hast das doch dein ganzes Leben gemacht! Erzähl du mir, was los ist da draußen und wann dieser verdammte Strom endlich wiederkommt!«
Henning versuchte ihre Vorwürfe zu ignorieren und hielt seine Kaf feetasse mit beiden Händen an die Lippen. Er pustete in den kalten Kaffee.
»Mach jetzt das Wasser warm«, befahl
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