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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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Mannes deutlich erkennen. Tina schluchzte neben ihm. Sie hatte ihren Rock mit beiden Händen weit über die angewinkelten Knie gezogen. Malow trat das Gaspedal fast durch den rostigen Unterboden. Mit jedem Me ter, dem er sich den Männern näherte, änderte sich der Gesichtsausdruck des Latzhosenträgers: zuerst erstarrte das Lachen in der siegessicheren Visage. Es klappte herunter zu einer nichtssagenden, blöden Leere, die schon eher zum intellektuellen Potenzial des Mannes passen wollte. Der Wagen hatte ihn fast erreicht, da endlich tauchte auch Entsetzen in dessen Augen auf. In letzter Sekunde versuchte er zur Seite zu springen – aber es war zu spät. Der Wagen erfasste ihn und warf ihn zu Boden. Im selben Augenblick zertrümmerte die Eisenstange des anderen ihre Windschutzscheibe. Das Glas zersplitterte in Millionen Teilchen, die sich noch kurz aneinander festhielten, dann fiel ihnen das, was von der Scheibe übrig war, in den Schoß. Malow registrierte, wie sein Wagen über ein Hindernis holperte. Vom Fahrersitz aus fühlte es sich wie ein weicher Baumstamm an. Er wusste, was es war. Er schaltete in den dritten Gang.
    Die Straße führte sie an geplünderten Geschäften vorbei, an Autos, ausgebrannt und auf dem Dach oder der Seite liegend, die sie zu einem langsamen Schlängelkurs zwangen. Schließlich, die Männer waren außer Sichtweite, blieb Malow stehen, öffnete die Fahrertür und warf die Reste der Windschutzscheibe auf die Straße.
    »Mit dir alles in Ordnung?«
    Tina nickte artig. Sie rieb sich das Handgelenk und weinte. »Im Rucksack war alles, was ich noch hatte: mein Geld, Ausweis, meine Kleider und ein paar Geschenke für meine Brüder und für Mama und Papa.«
    »Lieber der Rucksack als du.« Malow stieg aus und ging um den Wa gen herum. Die Stoßstange hing nur noch an einer letzten Schrau be. Vorn rechts klebte Blut. Er trat einmal dagegen und die Stoßstange war Vergangenheit. Dann ging er weiter bis zur Beifahrertür, öffnete sie und betrachtete das Mädchen in seinem Wagen. »Ist wirklich alles in Ordnung mit dir und deiner Hand?«
    Sie nickte. Dann konnte sie sich nicht länger beherrschen. Sie wollte stark sein, sie wollte lachen, über sich und diese beschissene Welt! Aber es ging jetzt einfach nicht mehr. Alles brach aus ihr heraus, als sei Malows wohlgemeinte Frage der harmlose Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ihre Schultern bebten, der ganze Wagen vibrierte.
    Malow wandte sich ab, ging zwei Schritte und kam wieder zurück. Er streckte die Hand nach ihr aus und berührte das Kind an der Schulter. Als hätte sie nur darauf gewartet, griff sie nach seiner Hand und zog ihn zu sich. Sie wollte von ihm umarmt werden. Wer, wenn nicht Malow, sollte sie beschützen? Sie hatte Angst. Angst um sich und ihre Familie in Deutschland. So viele Warums und Wiesos hatte diese Welt in den letzten Tagen geboren, so unendlich viele Fragen, die nagten und nagten und nagten. Sie war eine Frau, fast noch ein Kind, und diese neue Welt beschützte Menschen wie sie nicht mehr. Es gab weder Gesetze noch Gesetzeshüter und die Skrupel, über das herzufallen, was man haben wollte, waren inzwischen auf einen Nullpunkt gesunken. Wenn jemand etwas haben wollte, egal ob Ding oder Mensch, nahm er es sich. Die einfachste Sache der Welt, solange man der Stärkere war. In dieser Woche war sie nun schon das zweite Mal nur knapp einer Vergewaltigung entgangen, das erste Mal vor drei Tagen, als ihr ein hagerer Bauer erlaubt hatte, in dessen Scheune zu übernachten. Nachts hatte er plötzlich auf ihr gelegen und nur ihre Schreie, die die uralte Mutter des Bauern geweckt hatten, verhinderten ihr erstes Mal.
    Sie hatte so unvorstellbaren Hunger. Das war nicht mehr das unbeschwerte Mädchen von vor ein paar Tagen, das hier saß. Tina registrierte genau die Veränderung, die sich in ihr vollzogen hatte und noch weiter vollzog. Vor ein paar Minuten noch hatte sie diesem Mann, der ihr Großvater sein könnte, ihren Körper für ein wenig Essen angeboten. Wozu wäre sie morgen bereit, um nicht zu verhungern? Wozu übermorgen und an den Tagen danach, sollte sie diese noch erleben? Sie hatte Angst, Angst vor sich und dem Menschen, der sich aus ihr entwickelte. Zuerst hatte sich die Welt verwandelt und jetzt verwandelten sich nach und nach auch die Menschen. Normen und Grundsätze zerbröselten mehr oder weniger bereitwillig zwischen den Klau en des Hungers.
    »Ist schon gut«, sagte Malow. Seine Stimme klang tief und

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