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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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verstand jetzt gar nichts mehr.
    Das breite Band der Landstraße wand sich hier durch ein kleines Dorf. Die Posten aber ließen keinen der Reisenden (und ihre Fahrräder) in den Ort. Offensichtlich kamen nur persönlich Bekannte in den Genuss einer Passage, alle anderen nahmen ganz selbstverständlich einen frischen Trampelpfad um das Dorf herum. Keiner widersprach, jeder fügte sich, als sei dies alles der normale Ablauf und seit ewigen Zeiten gang und gäbe. Malow befolgte die Anweisungen des Postens und setzte den Wagen ein Stück zurück. Er holperte um den Ort herum. Auf halbem Wege blieb er stehen und betrachtete das Dorf und seine Umgebung wie eine Fata Morgana. Die Fenster und Türen aller Gebäude am Ortsrand waren fest verschlossen, zum Teil sogar mit Brettern vernagelt. Trotz der ungewöhnlichen Mittagshitze quoll vereinzelt Rauch aus den Schornsteinen. Kinder beobachteten den Fremden. Auf den Feldern unmittelbar neben dem Dorfrand spielten sich Szenen aus einem fernen Jahrhundert ab – seine eigenen Großeltern mochten diese vielleicht zuletzt so gesehen haben: ein alter Mann erklärte zwei Frauen den Gebrauch einer Sense und ein Stück weiter musste ein stolzes Reitpferd einen rostigen Pflug hinter sich herziehen. Dem Tier war der Ärger über die unstandesgemäße Arbeit anzu sehen. Es versuchte, das Joch abzuschütteln und musste von einer Halbwüchsigen, die vor ihm herging, immer wieder beruhigt und zum Weitermachen motiviert werden. Ein kleines Stück abseits lagerte eine Gruppe Menschen neben einem umgekippten Reisebus. Sie hatten ein Feuer entzündet und zwischen sich und dem nahen Bach frisch gewaschene Kleider im Gras zum Trocknen liegen.
    Henning Malow starrte auf das alles. Er suchte nach Kameras, die entweder diese Szenen (ein Horrorfilm) oder aber ihn (Versteckte Kamera!) filmten. Irgendwo musste ein Regisseur auf seinem Klappstuhl sitzen.
    Plötzlich klopfte es an die Fahrertür.
    »Entschuldigung. Sie sind Deutscher?«
    Malow benötigte einige Sekunden, um sich von der Szenerie und der nagenden Frage nach ihrer Bedeutung loszureißen. Neben seinem Wagen stand ein junges Mädchen, höchstens achtzehn und mit zwei dicken, langen Zöpfen hinter den Ohren. Ihre Nase war eine einzige Sommersprossenwiese. Sie lächelte Malow aus dunkelbraunen Augen an und zeigte ihre glänzende Zahnspange.
    »Ja«, sagte er endlich. »Ja, ich bin Deutscher. Woher …?«
    »Die Aufkleber.« Sie zeigte auf eine kleine Deutschlandkarte auf der Windschutzscheibe und auf einen winzigen Bären mit einer Krone. Unter seinen pelzigen Füßen stand »Berlin«.
    »Ah. Natürlich, die Aufkleber.«
    Eine der Frauen probierte es mit der Sense. Der Lehrmeister korrigierte sie am Anfang zweimal, schien dann aber zufrieden und sah ihr mit einem Lächeln bei der Arbeit zu. Die Magie einer längst vergangenen Zeit hier im Schweden des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Henning Malow konnte seinen Blick kaum abwenden.
    »Fahren Sie zurück nach Deutschland?«
    Er nickte.
    »Wie?«
    »Nach Trelleborg und weiter mit der Nachtfähre.«
    »Fähre?«
    »Der Autofähre nach Saßnitz.«
    »Es fahren noch Fähren?« Das Mädchen stellte wirklich zu dumme Fragen!
    Verärgert drehte er sich wieder zu ihr um. »Mein Kind, ich weiß nicht, wie du hierhergekommen bist, aber es gibt Schiffe, auf die man hier mit dem Auto rein- und drüben in Deutschland wieder runterfahren kann. Verstehst du?«
    Sie betrachtete ihn. War er ein Wesen von einem anderen Stern?
    »Würden Sie mich mitnehmen? Bis zum Hafen vielleicht?«
    »Wieso nimmst du keinen Bus?«
    »Aber es fährt doch nichts mehr«, sagte sie. Die Entrüstung über seinen Vorschlag stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Sie sind der Erste«, sie musste einen Moment nachdenken »der Erste seit zwei Tagen, der mit einem Auto unterwegs ist.«
    »Jetzt ist aber gut, Kleine. Auf den Arm nehmen kann ich mich auch selber«, sagte er, realisierte aber im selben Moment, dass die Kleine vielleicht die Wahrheit sagte. Seit er den Wald verlassen hatte, war ihm noch kein einziges Auto begegnet, das fuhr. Es standen eine Menge von ihnen an den seltsamsten Stellen, aber fahren wollte offenbar niemand mehr. Oder konnte nicht mehr. All das, was er hier sah, war offensichtlich doch die Wirklichkeit und kein Theater. Diese Erkenntnis war ein Schock für Henning Malow.
    »Ist alles in Ordnung?« fragte das Mädchen, sie klang besorgt. Ma low war plötzlich kreideweiß. Er nickte.
    »Kannst du mir sagen, was

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