Rattentanz
Stück zurück. Immer mehr Menschen kamen aus den Häusern, niemand wusste, wie viele sich hier noch versteckten. In einer Minute konnten sie vielleicht schon von einer undurchdringlichen Menschenmenge eingekreist sein. Der Wagen schwankte, als eine andere Mutter ihr Kind auf das Dach des Wagens setzte. Eine dritte Frau drängelte sich nach vorn, einen Säugling im Arm. Die Erste ging zur Seite. Ihr Kind schrie. Malow fuhr an. Er ließ den Motor aufheulen und der Wagen ruckte kurz. Das Kind auf dem Dach schrie noch lauter und die vier oder fünf Menschen vor dem Wagen erschraken und gingen zur Seite. Das war die Gasse, die sie brauchten!
Aus den dunklen Löchern der Häuser kamen immer mehr Menschen, fast ausschließlich Frauen, Kinder und Alte. Und alle sahen schmutzig und hungrig aus.
Tina starrte das Kind auf der Motorhaube an. Malow gab Vollgas. Er schloss die Augen und krallte sich an das Lenkrad. Nur weg hier, weg. Sie mussten weg!
Er hörte Schreie, jemand schlug gegen den Wagen.
Gasgeben!
Tina schrie. »Das Kind! Das Kind auf dem Dach!«
Malow schaltete in den zweiten Gang und öffnete die Augen. Sie rasten auf eine Mauer zu. Das Kind, das von seiner Mutter auf die Motorhaube gesetzt worden war, wurde durch das plötzliche Anfahren zu ihnen ins Wageninnere geschleudert. Aus weit aufgerissenen Augen starrte es sie an. Tina nahm es und drückte es an sich. Malow riss das Lenkrad herum und folgte der Straße nach links. Dort aber warteten bereits die Herren dieser Straße auf sie. Der Lärm, der aus dem Nachbarrevier zu ihnen gedrungen war, hatte sie gewarnt. Mit Knüppeln und Ketten in den Händen warteten sieben Männer auf Tina und Henning Malow. Und auf das Kind im Arm des Mädchens.
75
18:17 Uhr, nahe Trelleborg, Südschweden
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Mit jedem Zerren und Ziehen zog sich der rote Plastikstrick noch etwas fester zu und schnitt ihm noch etwas tiefer ins Fleisch. Unbemerkt war der Abend gekommen. Das kleine Boot mit den polnischen Pärchen hatte sich stetig entfernt, war endlich zu einem winzigen Pünktchen am Horizont zusammengeschmolzen und schließlich ganz verschwunden. Hans Seger hoffte, dass es gesunken war.
Sie hatten ihn dermaßen straff am Verandageländer fixiert, dass er keinerlei Bewegungsspielraum mehr besaß. Er konnte sitzen, aber nicht stehen, er konnte sich anlehnen, aber sonst seine Position kaum verändern. Welchen Grund hatten die vier, ihn so ohne jede Chance auf Befreiung zurückzulassen? Weder waren andere Häuser in der Nähe – und damit Menschen – noch eine Straße. Sich selbst zu befrei en schied völlig aus. Strick und Geländer hatten seinen Befreiungs versuchen standgehalten. Ohne ein gehöriges Wunder bedeutete dies hier das Ende. Das war sicher.
Die Sonne wanderte über den Strand und verschwand hinter einem Waldstück. Hans saß im Schatten. Er hatte Durst. Der Hunger war nicht ganz so schlimm, aber der Durst. Zehn Zentimeter fehlten und er hätte die Wasserflasche mit der Fußspitze berühren können. Noch halb voll lag sie zu seinen Füßen.
Er starrte aufs Meer. Träumte von daheim. Eva.
Eine Möwe kam auf die Veranda geflattert, kreischte Hans wie zur Begrüßung zu, und setzte sich auf das Geländer. An einem Ende des Geländers saß sie, am anderen er. Sie beäugte zuerst den Mann, dann blickte auch sie kurz aufs Meer hinaus. Dann wieder zu ihm. Hans freute sich über den Besuch. Zwar nicht die erhoffte Hilfe, aber wenigstens war er nicht mehr allein.
»Na«, sagte er, »hast du nichts Besseres zu tun?«
Die Möwe betrachtete ihn aus starren, gelben Augen. Unheimlich gelb, so aus der Nähe. Vielleicht, um ihn besser zuhören zu können, kam sie auf dem Geländer zwei Möwenschritte näher. Wieder sah sie aufs Meer. Aber dort geschah nichts von Interesse. Das Wasser blieb ein abgrundtiefer Spiegel, die Spur seines Bootes längst verwischt. Nirgends streitende Artgenossen des Tieres, weit und breit keine lohnende Beute am Strand. Also hörte sie dem Menschen zu und putzte sich.
»Fliegen sollte man können«, sagte Hans. »Hätte ich deine Flügel, wäre ich in zwei Tagen daheim.« Seine Kehle war trocken und das Sprechen fiel ihm sichtlich schwer. »Wär’ kein Problem, über das Meer zu kommen. Fliegen, einfach nur fliegen und wenn die Flügel lahm werden, könnte ich mich aufs Wasser setzen und solange ich will treiben lassen. Du hast es gut, Möwe. Hat sich für dich in der vergangenen Woche irgendwas verändert?« Sie schnatterte mit tiefer Stim me.
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