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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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eigentlich los ist? Ich verstehe überhaupt nichts mehr.«
    »Na, was schon.« Kam der Mann vom Mond? Wo hatte er in den letzten Tagen gesteckt? »Irgendwer oder irgendwas hat alles abgestellt«, sagte sie.
    »Wie, alles abgestellt? Haben mein Strom- und Telefonausfall auch noch was damit zu tun?«
    »Wissen Sie was?« Das Mädchen ging um den Wagen herum und öffnete die Beifahrertür. »Sie nehmen mich mit bis zum Hafen und ich erzähle Ihnen unterwegs, was ich weiß. Ist nicht sonderlich viel, aber verglichen mit Ihrem Wissenstand doch wieder eine ganze Menge. Abgemacht?«
    Henning Malow zögerte, doch dann nickte er und warf seinen Wanderrucksack nach hinten. Das Mädchen stieg ein und schnallte sich brav an. Dann nahm sie ihre Tasche auf den Schoß und streckte ihm die Hand entgegen.
    »Tina«, sagte sie. »Eigentlich Valentina, aber mir wäre es lieber, wenn Sie Tina sagen.«
    »Sehr angenehm.« Malow stellte sich vor, dann fuhr er langsam um den Rest des Ortes herum. Auch auf der anderen Seite des Dorfes saßen zwei Posten auf einer martialischen Straßensperre.
    Als sie endlich wieder Asphalt unter den Rädern hatten und zügiger vorankamen, fing Tina an zu plappern. Sie erzählte Malow alles, was sich seit dem 23. Mai ab sieben Uhr zugetragen hatte. Der Ausfall von Strom und Telefon war nicht neu, dass dies aber flächendeckend geschehen war, schon. Sein Verhalten von eben, den drei Männern gegenüber, war ihm mit einem Mal peinlich.
    »An diesem Morgen ist alles vom Himmel gefallen, was gerade unterwegs war. Nur von einem uralten Propellerflugzeug habe ich gehört, dass es noch sicher landen konnte. Fließendes Wasser gibt es übrigens auch nicht mehr. Und überall, vor allem in den Städten, wurde geplündert, was nicht bei drei in Sicherheit war. Ich glaube, in ganz Schweden gibt es keinen einzigen Laden, der nicht ausgeräumt worden ist.«
    »Und die Regierung?«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht gibt’s die schon gar nicht mehr. Wer weiß. Ich bin bloß froh, dass ich Sie getroffen habe, wissen Sie. Es ist, als hätten sich in dieser Woche alle normalen Leute versteckt und alle Verrückten und Verbrecher ihre Plätze eingenommen. Sie können sich nicht vorstellen, was die Leute alles erzählen, wenn man erst einmal mit ihnen ins Gespräch kommt. Oder vielleicht doch? In Stockholm sollen sie sogar ein Kloster ausgeraubt haben. Und die Nonnen haben sie ermordet nachdem sie sie … na, Sie wissen schon. Und vorgestern hat mir eine Frau erzählt, dass in Jonköping Soldaten mit einem Panzer bis vor die Stadtkirche gefahren sind und Schießübungen veranstaltet haben. Als der Turm un ten war, sind sie wieder verschwunden.«
    »Aber wo ist die Polizei?«
    »Keine Ahnung«, sagte Tina. »Wahrscheinlich nach Hause, wie alle, die Familie haben.«
    Sie plapperte und plapperte und setzte Henning Malow innerhalb einer Viertelstunde über den Verlauf der letzten Tage ins Bild. Sie sei Halbschwedin, erklärte sie, ihre Mutter stamme von hier und, wie je des Jahr, habe sie ihre Großeltern besucht.
    Die Farbe ihrer Zöpfe erinnerte ihn an Lena, an die alte Lena von früher. Er hatte Lenas Welt verlassen und sich in das Abenteuer eines eigenen Lebens gestürzt. Aber war dieses eigene Leben in dieser fremd artigen Welt wirklich die bessere Alternative?
    Erst am frühen Abend erreichten sie Trelleborg. Ein paar hässliche Verkehrsunfälle, drei Straßensperren sowie mehrere von einem Gewitterschauer umgeworfene Bäume zogen die wenigen Kilometer in die Länge. Mehr als einmal freute sich Tina über Malows Geländewagen. Ein Fahrzeug mit weniger Bodenfreiheit hätte sie längst im Stich gelassen.
    »Meine Großmutter wollte mich gar nicht gehen lassen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, müsste ich solange bei ihr im Haus bleiben, bis alles wieder normal ist. Aber meine Eltern warten sicher auf mich und machen sich Sorgen. Und meine Brüder.« Nachdenklich betrachtete sie eine noch rauchende Fabrikruine, die langsam an ihnen vorbei zog. »Glauben Sie, wir haben eine Chance, über die Ostsee zu kommen?« Sie sah zu Malow hinüber und hoffte, dass der nickte. Sie woll te, dass er nickte. Sie brauchte diesen letzten Funken Hoffnung.
    »Wenn hier nichts mehr gehen sollte, fahren wir die paar Kilometer bis Malmö hoch und nehmen einfach die Öresundbrücke. Hätten wir vielleicht gleich machen sollen, ist aber ein ziemlicher Umweg. Wir probieren es zuerst hier, nach Malmö können wir immer

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