Rattentanz
warm und langsam beruhigte sich das Mädchen in seinem Arm. Tinas Tränen durchnässten sein Hemd.
»Werden Sie auf mich aufpassen?«, fragte sie. Sie schluckte, wischte mit dem Handrücken eine Träne fort und sah zu ihm auf.
»Glaubst du nicht, ich bin ein bisschen zu alt, um auf ein junges Ding wie dich aufpassen zu können?«, fragte Malow zurück. Es sollte wie ein Scherz klingen.
»Ich meine es ernst. Darf ich bei Ihnen bleiben, bis wir wieder in Deutschland sind? Passen Sie auf mich auf?« Ihr Blick sagte deutlich, dass sie jetzt eine Antwort erwartete. Malow zögerte. Er befand sich erst seit wenigen Stunden in seinem neuen Leben, war davongelaufen vor der Last seiner Schuld. War es nicht noch viel zu früh, schon wieder Verantwortung für einen anderen Menschen zu übernehmen? Er musste diese Welt kennenlernen, sich selbst wieder neu entdecken, ein, wenn auch hübsches, Mädchen konnte dabei nur stören. Sie würde Ärger provozieren, denn natürlich sahen auch andere, dass sie hübsch war, ungefähr das, was man zu seiner Zeit einen Kracher genannt hätte und dem man mit offenem Mund hinterhergestarrt hatte.
»Bitte.«
»Also gut.« Sie sprang auf und umarmte ihn erneut.
»Langsam, langsam. Du erwürgst mich noch.« Er löste ihre Hände und drückte sie zurück auf den Beifahrersitz. »Aber nur, wenn du mir eine Sache versprichst.«
Sie nickte. »Ich höre.«
»Mach mir bitte keine Angebote mehr wie das vorhin, hörst du?«
Tinas Wangen entschieden sich erneut für krebsrot.
»Ich bin zwar ein alter Mann, aber nicht so alt, als dass ich so ein Angebot nicht vielleicht doch irgendwann annehmen könnte. Und das will ich nicht. Wir würden uns beide hinterher schämen.«
Tina schwieg und sah zu Boden.
»Versprichst du mir das?«
Sie nickte.
»Gut. Und jetzt sag endlich, wie wir zum Hafen kommen. Der Kerl hat doch was gesagt vorhin.« Er ging zurück auf seine Seite des Wagens, stieg ein und sah sie an. Er wartete. Sie berichtete, was der Mann gesagt hatte, bevor er sie aus dem Auto hatte zerren wollen. Malow schwieg und blickte starr geradeaus.
»Oder sollten wir lieber selbst nachsehen?«, fragte sie. »Vielleicht hat er uns nicht die Wahrheit gesagt.«
Malow nickte und startete den Motor. »Wir sehen lieber selbst nach«, entschied er. »Ich kann mir zwar inzwischen nicht mehr vorstellen, dass ausgerechnet die Fährverbindungen noch funktionieren, während alles andere ringsum brachliegt, aber – sehen wir einfach nach.«
In diesem Augenblick starrte plötzlich eine alte Frau durch sein Seitenfenster. Ihr Blick war glasig und die Augen versanken in tiefen, dunklen Höhlen. Sie legte die Handflächen an die Scheibe und sagte etwas, was aber im Lärm des Motors unterging. Im Rückspiegel nahm Malow eine Bewegung wahr und als er sich umdrehte, sah er auch dort eine Frau. Eine weitere tauchte auf, dann noch eine und auch ein Mann. Tina kurbelte ihre Scheibe hoch, Malow drückte den Knopf der Zentralverriegelung. Auch vor dem Wagen standen jetzt Menschen und eine Frau, vielleicht Anfang dreißig und mit Augen, deren Trauer und Verzweiflung Henning Malow danach nie wieder vergessen konn te, setzte ein schreiendes, schmutziges Kind auf die Kühlerhaube. Das Kind kletterte auf allen vieren über das warme Metall und streckte seine kleine Hand nach ihnen aus.
»Sie haben Hunger«, flüsterte Tina.
Die Menschen, seit Tagen von kleinen Gangs terrorisiert, hatten sich in ihren Häusern versteckt. Alle Straßen der Stadt waren in einem mehrtägigen Machtkampf von verschiedenen Gangs unter sich aufgeteilt worden, mit den Herren dieser Gegend hatten sie selbst vor wenigen Minuten Bekanntschaft geschlossen.
»Nehmt das Kind weg!«, rief Malow und wedelte mit den Armen. Aber die Mutter machte keine Anstalten, ihr Kind zurückzunehmen. Der Mann, den sie sah, war gut genährt. Er trug saubere Kleider und besaß noch Benzin. Er musste ihr wie ein rettender Engel erscheinen und wenn sie schon nicht in der Lage war, ihr eigenes Leben zu retten, dann doch wenigstens das ihres Kindes. Ihren Mann hatte am zweiten Tag dieses Super-GAUs eine Horde Betrunkener vor ihren Augen ermordet und vor den Augen ihres Kindes hatten diese anschließend zuerst sie, danach ihre kranke Mutter vergewaltigt. Inzwischen war ih re Mutter gestorben. Die Blutungen hatten einfach nicht mehr aufhören wollen. Sie hatte alles hinter sich.
»Nehmt jetzt den Balg weg!« Das Kind berührte inzwischen schon das Lenkrad. Malow schob es ein
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