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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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fremde Geräusch schon aufgeschreckt. Verstört blickte sie aus gelben Augen zu Hans, dann begann die Möwe eine ausführliche Morgentoilette. Hans betrachtete den Horizont in alle Richtungen, dann den Himmel. Nirgends ein Zeichen menschlichen Lebens. Diese Spezies hatte es niemals gegeben. Waren er und Malow vielleicht die Einzigen, die es noch gab? Hier und jetzt konnte man leicht auf diese Idee kommen. Der Mensch und all seine Spuren waren ausgelöscht. Und die Erde drehte sich dennoch weiter.
    Wann würden sie Deutschland erreichen und (Achtung: die entscheidende Frage!) was wartete da auf sie?
    Hans hatte sich bisher wenig Gedanken darüber gemacht, wie es weitergehen sollte. Es war eher eine Art stille Übereinkunft, dass er erst mal wieder festen Boden unter beiden, dann hoffentlich noch funk tionierenden, Beinen haben wollte, bevor er Pläne schmiedete. Eigentlich lag ja auch alles denkbar einfach auf der Hand. Es gab ein Ziel: Wellendingen. Der Weg dahin würde sich finden. Außerdem hatten ihm die vergangenen zwei Tage deutlich gezeigt, wie schnell sich Hoffnung in Ausweglosigkeit und schließlich in Rettung verwandeln konnte. Das Leben war ein Chamäleon; man konnte nicht voraussagen, in welchem Kostüm es an der nächsten Ecke wartete. Wozu also Pläne schmieden?
    Allerdings ließ es sich kaum vermeiden, dass sie auf ihrem Weg die eine oder andere Großstadt passieren mussten. Wo auch immer sie an Land gespült werden würden, auf dem Weg nach Süden lagen Städte wie Berlin, Leipzig, Nürnberg und Stuttgart. Seine eigenen Erlebnisse in Malmö und Malows Bericht über die Lage in Trelleborg – wobei Trel leborg eigentlich den Charakter einer friedlichen Kleinstadt besaß – zeigten, dass Städte zu meiden waren. Vielleicht lag es daran, dass sich dort besonders viele Menschen auf besonders engem Raum befanden, vielleicht auch an den in Städten besonders schnell auftretenden Lebensmittelknappheiten und der allgemeinen Anonymität. Wahrschein lich war von jedem etwas schuld daran, dass Städte Anarchie und Gewalt gebaren, während auf dem Land, wo jeder noch jeden kannte, das Leben irgendwie weiterging. Seine Hoffnung: dass das Leben auch in Wellendingen irgendwie weiterging.
    Neben dem Boot kam ein kleiner Fisch kurz an die Wasseroberfläche. Die Möwe unterbrach ihre Morgentoilette, das Wasser glättete sich und der Vogel kümmerte sich erneut um sein Gefieder.
    Vorsichtig, um Malow nicht zu wecken, versuchte er seine Sitzposition ein wenig zu verändern. Die Holzrollen waren hart, nass und kalt und sicher hatten sie in den vergangenen Stunden ein paar zusätzliche Rillen in seinen Allerwertesten geprägt. Alles an ihm fühlte sich steif an, knochenhart. Fast alles.
    Hans musste plötzlich an sein erstes Mal mit Eva denken und lächelte. Heute, nach zehn Jahren, konnte er darüber lächeln, damals nicht.
    August und September – das waren die Monate seiner heimlichen Treffen mit Eva, die beiden heimlichen Monate, wie beide sie heute noch nannten. So oft es nur ging trafen sie sich zu kurzen Spaziergängen, während der sie immer wieder auf ihre Uhren sahen. Jeder hatte einen Partner zu Hause sitzen, dem anschließend zu erklären war, wo man gewesen war. An diesem Augusttag aber hatten beide Zeit und beide wussten, dass es heute so weit war. Er erinnerte sich an Evas Befangenheit. Sie hatte Angst und seine Aufgabe war es, ihr diese Angst irgendwie zu nehmen. Hinterher lag sie neben ihm. Und wein te. Heute noch spürte er sein Erschrecken damals. Lag es an ihm? War es, weil er bei diesem ersten Mal nicht konnte, was er von sich erwar-tete und auch jede Frau von dem Mann, von dem sie sich ausziehen lässt, zu Recht erwarten darf? Er wusste noch genau, wie er sie zu trösten versuchte, aber sie hatte ihn nur angelächelt und geküsst. »Ich weine, weil ich so glücklich bin, du dummer Mann.«
    Henning Malow streckte sich. Die Sonne kletterte aus der Ostseesuppe der Nacht und versprach einen strahlenden Tag. Malow gähnte herzhaft und laut, so als sei er allein auf dieser Welt. Die Möwe stieg auf und betrachtete aus sicherer Entfernung das Floß.
    »Gut geschlafen?«, fragte Hans und streckte sich ebenfalls.
    »Ging so.« Malow brummte wie ein uralter Bär, dessen Winterschlaf mitten im Dezember unterbrochen wurde. Er kroch ans Heck.
    »Ich muss pinkeln. Halten Sie die Balance?«
    »Was machen Ihre Hände?«, fragte er, als beide ihr Geschäft erledigt hatten. »Meine Hände brennen wie Feuer.« Er

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