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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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betrachtete seine Schwielen und Blasen und verglich sie mit Segers Händen. Gut, dem anderen ging es auch nicht besser. Sie öffneten eine Konserve mit fettiger Leberwurst, dazu teilten sie sich einen Apfel und eine der eingeschweißten Vollkornbrotscheiben. Trinkwasser hatten sie genug und nach der kühlen Nacht war es angenehm frisch.
    »Gut, dass wir uns kein Segel gebaut haben. So windstill wie es ist, würden wir uns totärgern.«
    Sie sicherten die Vorräte und nahmen ihre Ruder.
    Gegen Mittag zogen sie ihre Hosen aus und banden sie um Kopf und Nacken. Zwar verhinderte die erst fünfzehn Grad warme Ostsee, dass sie übermäßig schwitzten, aber die Sonne brannte auf sie herab als hätte diese den Auftrag, die Überfahrt der beiden zu vereiteln.
    »Wo wollen Sie eigentlich hin?«, fragte Hans. »Zu Ihrer Familie?«
    Malow schüttelte den Kopf und ruderte weiter als sei die Frage kei ne Antwort wert. Aber schließlich antwortete er doch. »Ich habe niemanden«, sagte er.
    »Und der Ring da? Ich dachte, Sie wären verheiratet.« Er hatte Malows Ehering bemerkt. Malow hatte ihn versucht abzuziehen, aber seine Finger waren dicker geworden und der Ring saß so sicher wie ein Seemannsknoten.
    »Ich war verheiratet.« Er legte sich mit aller Kraft in sein Ruder, zog es durchs Wasser und beendete so das kurze Gespräch. Malow wollte nicht zurückdenken, nicht an Lena. Er wollte nicht wissen, wie es ihr in den vergangenen beiden Tagen ergangen war, wie es ihr jetzt ging. Ob sie noch lebte. Jeder will immer nur gute Erinnerungen, das Schlech te und die peinlichen Momente verschwinden in versteckten dunklen Schubladen, die gefälligst keiner aufzuziehen hat. Malow woll te sich an Lena erinnern, wie sie früher einmal gewesen war: das winzige Mädchen in Stoffwindeln, der Moment, als sie ihm diesen Ring ansteckte.
    »Meine Frau ist tot«, sagte er. Wie leicht das über seine Lippen kam.
    »Oh, das tut mir wirklich leid.« Was muss ich auch fragen! Halt den Mund und ruder weiter. Trotzdem: »Haben Sie sie letzte Woche ver loren?«
    »Nein. Lena ist schon seit fast drei Jahrzehnten tot.« Malow zog das Ruder ein. Er kniete sich hin und trank etwas Wasser. »Es war ein Autounfall vor siebenundzwanzig Jahren. Sie war sofort tot.«
    »Seitdem leben Sie allein?«
    Malow nickte.
    Hans Seger betrachtete den Horizont, der aber überall gleich aussah. Nirgends ein Anzeichen von Land.
    »Und jetzt? Wo möchten Sie hin?« Als Malow nicht sofort antwortete, fuhr er fort: »Ich gehe nach Süddeutschland, bis fast an die Schweizer Grenze muss ich, einmal quer durch ganz Deutschland, wenn wir es denn jemals erreichen. Ich stamme aus einem kleinen Dorf, Wellendingen.«
    »Nie gehört«, sagte Malow.
    »Glaub ich gern. Aber dafür ist es der schönste Platz der Welt. Meine Frau und meine Tochter warten da.«
    »Dann ist es bestimmt Ihr schönster Platz. Wie alt ist die Kleine?«
    »Sieben. Erste Klasse.«
    »Wir hatten keine Kinder. Wer weiß, woran es lag. Aber es war auch so schön, bis zu diesem Unfall.«
    Hans Seger massierte seine schmerzenden Waden und kniete sich hin. Es war schön, Menschen zu haben, nach denen man sich sehnte. Aber in den letzten Tagen waren Menschen wie dieser Malow sicher besser dran als er. Zu lieben bedeutete auch, sich zu sorgen, Angst zu haben, wenn die Tochter das erste Mal allein zum Kindergarten geht, wenn sich diejenigen, die man liebt, aus irgendeinem banalen Grund verspäten. Hans Seger machte die Angst und die Ungewissheit fast wahnsinnig. Er war froh, etwas tun zu können, ihnen näher zu kommen. Jeder Ruderschlag, jede Kontraktion seiner Muskeln, brachte ihn seinem Ziel ein winziges Stück näher. Eine Art von Betäubung, die dem Schandmaul der Angst in ihm den Mund zuhielt, manchmal jedenfalls.
    »Ein Zug hat ihren Wagen erfasst, mitten auf einem unbeschrankten Übergang. Sie starb im Krankenhaus.«
    »Warum sind Sie nicht in Ihrem kleinen Haus in Schweden geblie ben, wenn Sie niemanden mehr haben? Ich meine, kein Mensch nimmt dieses Risiko hier auf sich, wenn er kein Ziel hat!«
    »Gut beobachtet, junger Mann.« Malow legte sich auf den Rücken und blinzelte zwischen seinen Fingern hindurch in die Sonne. »Auch, wenn man so alt ist wie ich, kann man noch Träume haben. Ich denke, die ganze Katastrophe jetzt ist ein guter Zeitpunkt, sich Träume zu erfüllen. Ein Menschenleben rast an einem vorbei und ehe man sich ver sieht, ist aus dem tatendurstigen jungen Mann, der gerade eben noch seinen ersten

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