Rattentanz
vor Überraschung. »Dann bin ich auch verrückt«, entschied sie.
Wieso, fragten seine Augen.
»Ich höre manchmal ganz deutlich, wie meine Tiere mit mir sprechen. Abends im Bett. Mama oder Papa hören das nicht. Und manchmal sehe ich Ungeheuer an den Wänden in meinem Zimmer.«
»Das ist nicht das Gleiche«, entschied Thomas. »Bei Kindern nennt man es Fantasie. Das ist ganz normal. Und bei ganz alten Leuten heißt es Demenz.«
Lea betrachtete ihren Freund. Er sah gar nicht verrückt aus. Im Gegenteil, er schien Dinge zu verstehen, die die wenigsten Großen verstanden.
»Woher weißt du das alles?«
»Ich hatte eine Großmutter«, sagte er. Er kramte in seinen geheim nisvollen Hosentaschen. Als er die Hand hervorzog und öffnete, lag ein unscheinbarer, kleiner Knopf auf seiner Handfläche. »Das ist alles, was ich noch von ihr habe. Ich besitze zwar noch viele, viele Erinnerungen, aber dies hier ist das Einzige, was man anfassen kann.«
»Was ist das?«
»Ein Knopf von ihrem Totenhemd.« Thomas küsste den Knopf, be vor er ihn wieder versteckte.
»Und was ist ein Totenhemd?«
»Das, was die Menschen angezogen bekommen. Wenn sie tot sind. Ein Totenhemd eben.«
»Puh!«, rief Lea und sprang auf. Sie rannte über die Wiese, trieb die Kühe zur Seite und kam in weitem Bogen zu Thomas zurück. »Puh. Ein Knopf von einem Totenhemd – das ist ja unheimlich.« Sie ließ sich neben Thomas ins Gras fallen und fuhr mit der Hand über ihren Bauch. »Ich hab Hunger.«
Seit einigen Tagen gab es nur noch Getreidebrei bei ihnen. Eckard Assauer hatte zusammen mit Susanne aus der Mühle im Dorf einen Sack Mehl geholt. Milch gab es für die Arbeit in Albickers Stall und so gab es nun täglich zwei-, dreimal Getreidebrei, mal mit einer Prise Salz, einmal mit etwas Zucker. Lea hasste den Brei, der Fäden zog und sie an den Inhalt ihres Taschentuches erinnerte, aber sie hatte Hunger.
»Dann iss«, sagte Thomas.
»Was soll ich essen?«
Thomas deutete auf die Wiese.
»Ich soll Gras essen?«
Thomas nickte.
»Aber ich bin doch keine Kuh!« Trotzdem krabbelte sie auf allen vieren im Spiel durchs Gras und tat, als ob sie fressen würde. Sie lachte dabei.
Thomas riss einige Blätter ab und gab sie dem Kind.
»Die kannst du essen.« Lea sah ihn an. Wollte Thomas sie auf den Arm nehmen? Erst, als Thomas selbst von den Blättern aß, nahm sie eines und kostete.
»Das schmeckt ja ganz sauer!« Sie verzog das Gesicht, aß aber weiter. Es schien ihr zu schmecken.
»Sauerampfer«, erklärte Thomas. Er zeigte ihr die Pflanze und er zeigte ihr auch junge Löwenzahnblätter. »Das kannst du alles essen.«
»Glaubst du, dass unser Fernseher heute Abend wieder funktioniert?« Sie fragte ihn das fast täglich und erhielt immer die gleiche, unbefriedigende Antwort – sein Achselzucken. Auch die zweite wichtige Frage konnte Thomas nicht beantworten: »Und Papa? Kommt Papa heute zurück?«
»Vielleicht«, antwortete Thomas. Leas Augen leuchteten auf. Bisher hatte Thomas diese Frage noch nie beantwortet.
»Meinst du, er kommt heute?«
»Das weiß niemand, Lea.« Thomas lächelte. »Aber du musst jeden Tag damit rechnen und immer daran glauben, dass dein Papa es schafft und bald wieder bei dir ist.«
Leas Vorfreude verflog und sie sackte in sich zusammen. Ohne gro ße Lust kaute sie weiter und betrachtete das Flugzeugwrack am gegenüberliegenden Hang. Sie hatte sich bereits an den Anblick des ausgebrannten Rumpfes gewöhnt, der wie eine verbrannte Riesenpuppe in den Himmel ragte. Manchmal erinnerte sie das Flugzeug auch an einen Joystick, je nachdem, wie die Sonne gerade stand. Vielleicht war es tatsächlich so ein Ding und nachts kam ein Riese und steuerte von dort oben aus ihre Träume.
Sie musste an Eckard Assauer denken, den einzigen Überlebenden aus diesem Flugzeug. Er würde seine Tochter und seinen Enkelsohn nie wiedersehen. Im Himmel natürlich schon, irgendwann, aber nicht hier in Wellendingen. Sie fragte sich, was nun eigentlich schlimmer war: zu wissen, dass jemand gestorben war oder, so wie sie und ihre Mutter, auf jemanden zu warten und keine Ahnung davon zu haben, wie es dem, auf den sie warteten, eigentlich ging? Zwar sagte ihre Mama ihr jeden Abend, wenn sie sie ins Bett brachte, dass der Vater noch lebte, aber woher wollte das die Mutter wissen? Konnte sie etwas sehen und wissen, das andere Menschen nicht sahen und wussten? Dann, so schlussfolgerte Lea, musste ihre Mutter ebenfalls verrückt sein. Aber das würde
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