Rattentanz
in ihren Häusern besuchte, zum Abschied eine Kleinigkeit zugesteckt, in den letzten Tagen waren diese Gaben an ihren Hir ten aber immer kleiner oder unbrauchbar geworden. Statt eines Apfels oder einer kleinen Wurst brachte der Pfarrer neuerdings Geld mit heim, was ungefähr so nützlich war wie eine Warze. Geld konnte man nicht essen. Die Vorräte im Dorf gingen langsam, aber sicher zu Ende. Was, wie Kartoffeln, eventuell wachsen und Früchte tragen konnte, hatte man schweren Herzens in den Gärten ausgebracht. Der Versuch, die Nahrungsmittelvorräte des Dorfes zu erfassen und unter allen gerecht zu verteilen, war kläglich gescheitert. Als die Menschen merkten, dass der Stromausfall und all seine Folgen kein kurzes Inter mezzo, sondern vielleicht eine neue Weltordnung war, begannen sie das Wenige, das sie noch hatten, zu verteidigen. Es war eine berechtigte Frage, die Versorgung eines Frieder Fausts im Delirium anzusprechen.
Der Ton untereinander hatte sich geändert. Plötzlich fühlte sich jeder, selbst von seinem Nachbarn, bedroht und wer noch etwas Essbares versteckt hatte, sah überall gierige Finger, die ihn bestehlen wollten. Nicht wenige wachten nachts in ihren Häusern oder schliefen ne ben dem Bisschen, das sie die kommenden Tage am Leben erhalten soll te.
»Wie wir Frieder durchbekommen, sehen wir, wenn wir ihn ha ben«, sagte der Pfarrer. Dann verließ er den Tisch.
Martin Kiefer war ins Gasthaus und dort sofort in sein Zimmer gegangen. Wann war es endlich so weit?! Er hielt es kaum noch aus! Am liebsten hätte er Eva sofort gepackt und nach Bonndorf geschleppt. Und manchmal, wenn er sie auf der Straße oder abends bei Faust traf, war er kurz davor, durchzudrehen und sein Maschinengewehr von der Schulter zu reißen. Aber das durfte er nicht. Noch nicht.
In Bonndorf war man froh, dass Kiefer sich für Wellendingen entschieden hatte. In ihren Augen wäre er nur ein Esser mehr, einer, den man bereits abgeschrieben hatte. Kiefer hatte in Bonndorf weder Freunde noch Verwandte. Seit seine Ehe mit Eva gescheitert war, hatte er sich immer mehr in seine eigene Welt zurückgezogen – eine Welt der Rachsucht, der Vergeltung, eine Welt, die auf das Morgen hoffte. Die beiden mit Evas Fotografien tapezierten Zimmer im Obergeschoss des Reihenhauses waren der Mittelpunkt, um den sich seit Jahren alles drehte, und hierher zog er sich stillschweigend zurück, wenn er alle ein, zwei Tage nach dem Rechten sah.
Nichts von dem, was er Bubi Nacht für Nacht erzählte, entsprach der Wahrheit. Es gab keine Gleichgesinnten, die er um sich versammeln wollte und auch Bubis Zukunft bedeutete ihm herzlich wenig. Kiefer hatte keine Pläne für die Zukunft, jedenfalls keine für die Zukunft der anderen. Zukunft bedeutete für ihn Eva; ein Morgen ohne sie konnte keine lebenswerte Zukunft sein. War sie endlich bei ihm, würde ihm dies Zukunft genug sein, eine Zukunft, die aus der reinen Anwesenheit seiner Frau erwuchs und sich selbst genügte. Und er war felsenfest vom Kommen dieses Tages überzeugt.
Während Eva im Pfarrhaus am Fenster stand, lag Martin Kiefer mit un ter dem Kopf verschränkten Armen im Bett. Seine Augen wanderten hin und her, als könne er hier im Gästezimmer im Erwachen tatsächlich die vielen, vielen Bilder seiner Frau sehen. Aber er hatte Fantasie und kannte jede einzelne Aufnahme vom tausendmaligen Betrachten. Eva lachte auf vielen der Aufnahmen, aber niemals galt dieses Lachen ihm. Kiefer wusste, wen diese leuchtenden Augen ansahen, wer sie glücklich machte. Wen er hasste!
Der Tisch mit den Hand-und Fußfesseln beherrschte das kleine Zim mer und wartete auf die Zukunft. Auf seine Zukunft. Meinen Al tar, nannte ihn Kiefer, wenn er wie jetzt von seiner und Evas Zukunft träumte. Er wusste, sie beide waren untrennbar miteinander verbunden, die Zukunft des einen gleichzeitig auch die Zukunft des anderen. Er wusste es und Eva würde es noch früh genug erfahren.
Vielleicht ahnte sie es bereits?
Kiefer lächelte. Dann erhob er sich. Ein neuer Tag. Ein neuer Abend. Eine neue Nacht!
86
16:11 Uhr, Wellendingen
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Thomas Bachmann war glücklich. So sehr er sich auch anstrengte, er konnte sich nicht erinnern, dass er jemals so zufrieden gewesen war wie jetzt. Selbst seine drei Stimmen aalten sich in wohliger Herzensruhe. Sie meldeten sich nur noch selten und wenn, so kam es ihm vor, dann nur, um ihn über ihr Wohlbefinden zu unterrichten.
Nummer eins war einfach nur glücklich. Die anderen beiden schwie
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