Rattentanz
Wellendingens beigesetzt. Christoph Eisele und Bardo Schwab hatten eine tiefe Grube ausgehoben und waren neben ihr, Thomas, dem Pfarrer, seiner Haushälterin und Frieder Faust die einzigen, die am Grab des Polizisten standen. Pfarrer Kühne hatte ein paar Worte gesagt, etwas über Gott und seine Wege und diese neue Zeit. Eva konnte sich später nicht mehr an sie erinnern.
Der Pfarrer und seine Haushälterin erwarteten Eva. Thomas hatte wie jeden Tag das Haus im Morgengrauen verlassen, um zuerst in Albickers Stall zu helfen und anschließend eine kleine Herde Kühe auf eine der nahen Weiden zu treiben. Auf dem Tisch dampften heiße Milch und frische Pfannkuchen, an denen nur die Eier fehlten. Eva blieb am offenen Fenster stehen. Die frische Luft tat ihr gut. Sie berich tete dem Pfarrer und Fräulein Guhl von Fausts Problemen und seinem Verschwinden, dann von der Zusammenkunft des Rates.
»Es sollen mehrere kleine Gruppen die Umgebung absuchen und alle anderen auf ihren Grundstücken nach ihm sehen.«
»Ich habe schon immer vermutet, dass Frieder trinkt«, sagte AnnaMaria Guhl aus tiefster Überzeugung. Sie stand an ihrem kleinen Cam pingkocher und gab dünnen Teig in eine Pfanne. »Auch nach dem Gottesdienst letzten Montag. Da saß er noch eine Weile mit diesem Eisele vor der Kirche auf einer Bank. Im Mülleimer habe ich später zwei leere Schnapsfläschchen gefunden. Können Sie sich das vorstellen – vor der Kirche!«
»Wenn sie ihn finden, können Sie ihm dann helfen, Eva?« Der Pfarrer putzte seine glänzenden Lippen mit einem Tuch ab und kam zu ihr ans Fenster. Eva konnte nur die Schultern heben.
»Keine Ahnung. Wirklich. Selbst auf unserer Intensivstation, mit all den Überwachungsmöglichkeiten, den Medikamenten, Ärzten und Schwestern, selbst da konnten wir nicht jedem helfen. Es weiß auch keiner, wie viel er trank und wie lange das schon so geht.«
»Bestimmt schon eine ganze Weile«, kam es vom Herd. »Bestimmt. Können Sie mir glauben.«
»Wenn wir ihn aber haben, müssen wir ihn entweder fesseln oder in einen gepolsterten Raum einsperren.«
»Wieso das denn?«
»Weil er Gespenster sieht. Heute Nacht hat er keinen von uns erkannt, noch nicht einmal seine eigene Frau. Im Delirium sieht man im wahrsten Sinne des Wortes Gespenster und will davonlaufen. So, wie es Frieder Faust heute Nacht ging, können wir von Glück reden, dass er die Haustür gefunden hat und nicht durchs Fenster gesprungen ist. Und dass uns der Blumentopf nicht getroffen hat.«
»Er hat Sie angegriffen?« Fräulein Guhl drehte sich endlich um, bei de Hände in die schmalen Hüften gestützt. Alles an ihr war Entrüstung. »Das geht aber nicht!«
»Fesseln oder einsperren.« Der Pfarrer dachte über Evas Worte nach.
»Sie haben ein weiteres Problem vergessen.« Fräulein Guhl gab Eva den Pfannkuchen.
»Und das wäre?«
»Wie lang wird es im günstigsten Fall dauern, bis er wieder der Alte ist?«
»Drei, vier Wochen. Oft länger.«
»Und wovon soll er in dieser Zeit leben?«
»Susanne und Bubi werden sich um ihn kümmern«, sagte Pfarrer Kühne. »Und dann sind wir schließlich auch noch da, genau wie der Rest des Dorfes.«
Aber seine Haushälterin ließ nicht locker. »Glauben Sie wirklich, Herr Pfarrer, jemand will das, was er gar nicht hat, mit einem Säufer teilen?«
»Erstens ist Frieder kein Säufer, sondern krank, und zweitens ist er einer von uns. Und den werden wir hoffentlich nicht im Stich lassen. Vergessen Sie nicht, was Frieder Faust vergangene Woche für uns alle getan hat, wie er sich für uns alle eingesetzt hat. Da werden wir ihn doch wohl drei, vier Wochen aushalten können!«
»Wollen ist das eine«, erwiderte Fräulein Guhl, »können etwas ganz anderes. Wir haben noch ein wenig Mehl, etwas Reis, eine Packung Nu deln und ein paar Gewürze. Mehr nicht. Unsere Pfannkuchen werden jeden Tag ein bisschen dünner und das Salz reicht auch nicht mehr lange. Zucker ist seit gestern alle und unsere letzten Kartoffeln haben Sie selbst mit mir hinten im Garten vergraben. Hoffentlich wachsen sie an.« Sie gab Eva einen kleinen Klecks Marmelade auf ihr Mittagessen. »Es ist ein Glück, dass Sie bei uns sind, Eva. Ohne Ihre Arbeit und den Lohn, den Sie dafür erhalten, könnten wir uns kaum über Was ser halten.« Was durchaus nicht übertrieben war, denn mittlerwei le blieb fast die Hälfte der Naturalien, die Eva für ihre Arbeit erhielt, im Pfarrhaushalt. Zwar bekam der Pfarrer noch immer, wenn er Alte und Kranke
Weitere Kostenlose Bücher