Rattentanz
sie für sich behalten.
Eva hatte Lea ein kleines Bild ihres Vaters neben das Bett gestellt. Lea hatte ihre Mutter vor drei Tagen nach der Augenfarbe ihres Vaters gefragt und sich dabei geschämt, weil sie diese vergessen hatte. Auch an den Klang seiner Stimme konnte sie sich schon nicht mehr erinnern. Das machte ihr Angst. Wieso ging alles weiter, obwohl er nicht hier war? Wieso verblasste die Erinnerung an ihn? Wieso konnte sie lachen, wieso immer öfter nicht an ihn denken?
Am Spätnachmittag trieben sie ihre kleine Herde zurück ins Dorf. Die Euter der Tiere waren prall, ihre Milch eine der wenigen Hoffnungen, die das Dorf noch besaß. Die anderen Tiere Albickers hatten den Tag auf einer eingezäunten Koppel auf der anderen Seite des Ortes verbracht und standen, als Thomas und Lea zurückkamen, bereits an ihren Melkplätzen. Vor dem Stall warteten bereits ein paar Dorfbewohner, die die Tiere versorgen und melken wollten und als Lohn eine Kanne Milch mitnehmen durften. Wegen der bisher erfolglosen Suche nach Frieder Faust kamen heute deutlich weniger Helfer als sonst, die meisten durchsuchten noch immer die Umgebung.
Auch den Pfarrer und seine Haushälterin hatten die leeren Vorrats schränke zum Stall getrieben.
Thomas führte die einzelnen Tiere an ihre Plätze, unnötig eigentlich, wusste doch jede Kuh besser als er, wo sie hingehörte.
Dann nahm er Lea an die Hand und steuerte Fausts Haus an, um sie, wie versprochen, abzuliefern. Lea stürzte sich in Evas Arme und berichtete von Sauerampfer und Löwenzahn. Thomas ging weiter zum Pfarrhaus. Unterwegs musste er an Hildegund Teufels Haus vorbei, ein Moment, den er jeden Morgen und jeden Abend herbeisehnte, sich aber gleichzeitig auch davor fürchtete. Er wusste nie, welches Gefühl ihn erwartete. Je näher er an das Haus herankam, desto langsamer ging er und lauschte dabei den Worten seiner Nummer drei. Die Stim me schwelgte in Glück und wenn des Teufels Großmutter manchmal vor ihrem Haus stand, konnte Nummer drei dieses Glück kaum noch fassen und hüpfte durch Thomas’ Kopf, was jeden anderen Gedanken unmöglich machte.
Heute aber verhielten sich die Stimmen in seinem Kopf völlig anders.
Thomas hatte auf seinem Heimweg Hildegund Teufels Bauernhaus fast erreicht. Er lauschte.
Er ist hier, flüsterte Nummer drei. Die Stimme zitterte. Das Böse ist angekommen.
Auch ohne die Worte in seinem Kopf merkte Thomas, dass heute etwas anders war. Das Haus und seine unmittelbare Umgebung, der kleine Kräutergarten und die allgegenwärtige Katze, all das, was ihm sonst einen angenehmen Schauer über den Rücken trieb, ängstigten ihn heute. Er senkte den Kopf und beeilte sich, die seltsame Stimmung zu durchqueren. Als er das Pfarrhaus erreichte, rannte er, hatte Angst vor dem, was ihm folgte. Er sah noch einmal zurück, zog die Tür zu und überzeugte sich danach mehrmals davon, dass die schwere Eingangstür auch wirklich verschlossen war.
In der folgenden Nacht weckte ihn Nummer eins.
Die Suche nach Frieder Faust hatte der Sonnenuntergang vorerst beendet. Lorenz Sutter vermutete, dass Faust in seinem Wahn vielleicht nach Bonndorf gelaufen wäre, Anne Gehringer wollte morgen eine bestimmte Stelle im Wald aufsuchen, weil irgendetwas in ihr sagte, dass er dort sei. Alles in allem wollte oder konnte sich am kommenden Tag nur noch ein gutes Dutzend an der Suche beteiligen, es gab viel zu viel Arbeit, die nicht warten konnte. Albickers mussten das gute Wetter nutzen und mit dem ersten Grasschnitt beginnen. Noch hatten sie ein wenig Diesel für die Traktoren, das regelmäßige Wenden des Grases aber sollte von Hand erfolgen.
Du musst zurückgehen, sagte Nummer eins.
Zurückgehen? Thomas versteckte sich unter seiner Decke und versuchte, die Worte zu ignorieren. Zurückgehen? Niemals! Niemand würde ihn jemals wieder nach Donaueschingen bringen! Nie wieder wollte er diesen Weg zurückgehen, nicht noch einmal über den Bus und all die Leichen klettern. Und überhaupt, was sollte er in Donaueschingen? Die Explosion der Tankstelle hatte sein Elternhaus zerstört. In Donaueschingen gab es kein Zuhause, niemand, dem etwas an ihm lag.
Nummer zwei teilte Thomas’ Ansicht.
Niemals werden wir zurückgehen! Stell dir vor, was alles passieren kann. Nein, nein, hier sind wir gut aufgehoben und unser kleines En- gelchen – oh, ich liebe ihre zarten Löckchen – braucht uns und liebt uns und wird uns niemals gehen lassen.
Auf Nummer drei hingegen übte die Vorstellung, nach
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