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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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Rücken und verband mit einem dritten Gürtel Hand-und Fuß fessel. Faust lag verschnürt wie ein Weihnachtspaket vor ihm. Er schrie, fluchte, bettelte und weinte. Susanne hatte sich in Bubis Kinderzimmer versteckt, hockte in der hintersten Ecke und presste beide Hände gegen ihre Ohren. Sie war nicht hier, nicht in diesem Haus und nicht in dieser fremden Welt.
    Bubi und Eva zogen Faust von der Treppe weg und zurück in das Zimmer mit den gelben Monstern. Seine Schreie ignorierten sie. Als er seinen Kopf wieder und wieder auf den Boden schlug, zogen sie die Matratze aus dem Ehebett, legten sie auf den Boden und Frieder Faust darauf.

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    05. Juni, 15:02 Uhr deutscher Zeit, Osaka
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    Ein Erdbeben der Stärke 8,6 zerstörte am späten Abend Ortszeit weite Teile Osakas. Das Beben dauerte siebenundzwanzig Sekunden. Das Epizentrum lag nördlich der japanischen Millionenstadt in einer Tiefe von fünfzehn Kilometern. Auch in Kobe – bereits 1995 bei einem schweren Erdstoß zerstört – und im nördlich gelegenen Kyoto waren die Schäden enorm. Durch die Naturkatastrophe starben 18.413 Menschen, über Hunderttausend wurden verletzt, mehr als eine Million obdachlos.
    Unmittelbar danach brachen drei Dutzend Großfeuer aus, von de nen einige mehrere Tage toben sollten und weiteren achthunderttausend Menschen das Zuhause nahmen. Krankheiten folgten. Die Anteilnahme der Welt blieb aus. Keine Kamerateams, keine Spen denkonten, keine Suchhunde.

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    06. Juni, 10:16 Uhr, westlich von Berlin
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    Sie sahen Silvia Hofmuth und waren sich sofort einig: dies war die hässlichste Frau der Welt!
    Seit ihrer Landung auf Rügen waren sechs Tage vergangen. Hans Seger und Henning Malow kamen deutlich langsamer voran als gehofft und erwartet.
    Nach ihrer ersten Nacht, die sie in einem kleinen Kiefernwäldchen bei Bakenberg verbracht hatten, verlief der erste Tag in Deutschland recht gut, schon am Abend erreichten sie Stralsund. Ihre vage Hoffnung, Strom- und Telefonausfälle könnten eventuell doch nur ein skandinavisches Problem sein, wurde schnell enttäuscht: überall das gleiche Bild, die gleiche Verwirrung. Einzig die Art und Weise, mit der die Menschen auf die Katastrophe reagierten, variierte, dies allerdings nach einem Muster, welches sie bereits aus Schweden kannten. Auf dem Land verhielten sich die Menschen gelassener. Sie bewahrten sich ein Mindestmaß an Zivilisation, hielten zusammen und befanden sich meist in der glücklichen Lage, auf den einen oder anderen Lebensmit telvorrat, vor allem aber auf Nutztiere und deren Produkte, zurückgreifen zu können. Sie kapselten ihre kleinen Gemeinschaften nach au ßen ab und versuchten mehr oder weniger erfolgreich, ihre abgeschiedene Welt zu organisieren.
    Ganz anders in den Städten. Hier hatten fast flächendeckend lose organisierte Banden das Kommando übernommen. In Raubrittermanier kontrollierten sie bestimmte Stadtviertel und plünderten alles, was noch nicht verfault oder bereits geplündert war. Die wenigen Menschen, die sich noch in ihrem Herrschaftsbereich aufhielten, wurden wie Sklaven behandelt. Der Nachteil dieser kurzfristigen Gesellschaftsordnung lag im kontinuierlichen Nehmen. Die Banden fraßen sich wie Heuschreckenschwärme durch die spärlichen Vorräte, vergewaltigten und mordeten und hinterließen buchstäblich verbrannte Er de. Sie organisierten sich um eine Führerfigur, regelmäßig der körperlich Stärkste oder Gerissenste aus ihrer Mitte, der auf seinem Weg an die Spitze der jeweiligen Gang für alle unmissverständlich seinen Führungsanspruch bewiesen hatte. Normalerweise geschah dies durch das Ausschalten etwaiger Mitbewerber.
    Anfang Juni verließen diese Gruppen nach und nach die Städte. Sie gingen dahin, wo sie noch Essbares vermuteten: aufs Land. Wie eine zweite Flutwelle folgten sie der ersten Woge, die bereits kurz nach dem 23. Mai Hunderttausende aus den Städten hinaus aufs Land gespült hatte.
    Eine solche Bande kontrollierte den Rügendamm, die einzige feste Verbindung zwischen Deutschlands größter Insel und dem Festland, der wie ein Nadelöhr alle Reisenden nach Norden und Süden bündelte. So wie Hans Seger und Henning Malow schafften es täglich eini ge Dutzend, die Ostsee auf Flößen oder in gestohlenen Fischerbooten, Kanus oder Schlauchbooten zu überqueren. Mit ihnen kam die Kun de von der unpassierbar gewordenen Öresundbrücke nach Deutsch land, was viele derer, die nach Skandinavien unterwegs waren auf dem kürzesten Weg, also nach

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