Rattentanz
Erst den Vater verloren und bald auch noch die Mutter.
Faust stöhnte und riss Bubi aus seinen Gedanken. Aber es war nur ein Traum, der nicht reichte, den Mann aus seiner Bewusstlosigkeit zu holen.
Fausts brauner Teint hatte sich in ein krankes Grau gewandelt. Die Augen lagen tief in ihren Höhlen, dunkel umrandet. Bubi ekelte sich vor dem scharfen Geruch, den sein Vater verströmte, ein Geruch, der das Zimmer vergiftete und ihm fast die Luft zum Atmen nahm. Er öff nete das Fenster.
Zum ersten Mal dachte er an die Möglichkeit, dass sein Vater das hier alles nicht überleben könnte. Er betrachtete ihn und fragte sich, wer sich dann um seine Mutter kümmern sollte, wenn Vater tot und er selbst mit Kiefer im Wald verschwunden war. Vielleicht kann ich Mutter mitnehmen, überlegte er, oder ab und zu nachts zu ihr ins Dorf schleichen und ihr ein paar Vorräte bringen. Es wird sich schon irgend eine Lösung finden, sollte – er fürchtete sich, den Gedanken zu Ende zu denken – sollte Vater den Kampf verlieren.
Faust schlief zwei Tage und zwei Nächte. Die, die in dieser Zeit abwechselnd an seinem Bett wachten – Susanne, Bubi und Eva – erinnerte sein Schlaf aber mehr an eine tiefe Bewusstlosigkeit denn an eine erholsame Ruhe. Am Vormittag des 4. Juni wurde er wach und starrte mit irrem Blick in das Gesicht seiner Frau.
»Frieder«, flüsterte sie. In ihrem Gesicht kämpften Überraschung und Schrecken. Sie hatte irgendwie geglaubt, dass sein Schlaf ewig so weitergehen müsse und sie selbst für immer und ewig hier an seinem Bett wachen würde. Sie hatte seit seiner Rückkehr kaum etwas gegessen und die wenigen freien Stunden nicht wie die anderen im Stall geholfen, sondern ihr Haus geputzt.
Frieder musste sie wiedererkannt haben. Sein Gesicht glättete sich ein wenig. Als er ihre Stimme hörte, blieb sein Blick einen Moment an ihr hängen. Man konnte die Anstrengung beinahe mit Händen greifen, die es ihn kostete, die Puzzleteile dieser vertrauten Stimme und des auch irgendwie bekannten Gesichtes zu einem Ganzen zusammenzufügen. Er versuchte, aus den bekannten Einzelteilen ein erklärendes Großes zu schaffen, aber es gelang ihm nicht. Irgendetwas passte nicht in das Bild, etwas in ihm verhinderte die korrekte Montage aller Puzzleteile. Die Stimme, das Gesicht, dieser Raum – es wollte und wollte einfach keinen Sinn ergeben. Fausts Blick, zuerst fragend, dann leer, wurde schließlich wütend. Er versuchte sich im Bett aufzurichten. Aber sie hatten ihn fest in warme Decken gewickelt, die jede Bewegung behinderten. Das machte ihn noch wütender. Er spürte seine Schwäche, fühlte seine ausgetrocknete, rissige Kehle und das Zittern der Hände. Was hatten sie mit ihm gemacht? Wer hatte das getan?
Plötzlich ganz ruhig, musterte er Susanne, sein Blick war jetzt eiskalt. Susanne erschrak, fuhr zurück und der Stuhl quietschte über den Boden. Er hasste dieses Geräusch und trotz der wärmenden Decken spürte er, wie sich jedes einzelne Haar seines Körpers aufstellte. Wer auch immer diese Frau da war, sie gehörte dazu! Sie musste eine von den Bösen sein, eine von denen, die seinen Körper verbrannten und ihn fesselten, die seine Kraft wie Vampire aus ihm heraussaugten. Sie wollen mich töten, dachte er. Und die dort, er überlegte noch immer, woher er Susanne kannte, sie gehörte dazu!
Diese Erkenntnis, verbunden mit dem Gefühl des Ausgeliefertseins, gab ihm Kraft. Eine seiner Hände ragte aus den Fesseln hervor, Eva hatte sie freigelassen, um Fausts Puls messen zu können. Er zog beide Beine an, zerrte an den Decken, strampelte, denn es ging um sein Le ben, es ging um seine Angst und um seinen grenzenlosen Durst. Die fremde Vertraute stand an der Tür. Hinter der Tür vermutete Faust ganze Kolonnen seiner Peiniger. In Fausts Augen erschien alles ganz klar: dies hier musste ein Gefängnis sein und diese Frau an der Tür eine Wärterin. Aus unerfindlichen Gründen kam sie ihm bekannt vor. Wahrscheinlich hatten sie es extra so eingerichtet, damit ihn das Bekannte an ihr beruhigte, sollte er aus der Bewusstlosigkeit erwachen. Sie hatten ihm einen Schlaftrunk gegeben, ihn gefesselt.
Die Angst gab ihm die nötige Kraft, sich aus den Decken zu befreien. Er stolperte aus dem breiten Ehebett und gegen einen Nachtschrank, der umstürzte. Eine Taschenlampe polterte über den Boden. Und da waren auch wieder die gelben Monster! Faust fiel aus dem Bett und landete genau zwischen ihnen. Er bekam die Taschenlampe zu
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