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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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Rügen zwang. Auf dem Rügendamm wurden sie von Schwerbewaffneten Tag und Nacht kontrolliert und von all dem Ballast befreit, der gemeinhin Nahrung genannt wird.
    Um ihre Vorräte zu retten, wandten sich Seger und Malow nach Osten und durchschwammen bei Drigge den hier nur knapp zwei Kilometer breiten Strelasund. Aber wie sich herausstellte, waren sie nicht die Ersten, die so den Rügendamm umgehen wollten. Als sie aus dem Wasser kletterten, wurden sie bereits erwartet. Eine zweite Bande kontrollierte diesen Strandabschnitt und die beiden Männer wurden auf diese Weise all ihre Habe los. Seger durfte nur das Bild von Eva und Lea behalten, Malow seinen durchweichten Städteführer von Rom. Jetzt waren sie wirklich frei, vogelfrei. Es stand ihnen frei, zu ge hen wohin sie wollten, man hatte sie vom Gewicht ihres wenigen Gepäcks befreit. Sie hatten die Freiheit zu verhungern.
    Sie verbrachten die Nacht ungeschützt unter freiem Himmel und lauschten dem Knurren ihrer Mägen.
    Am nächsten Morgen folgten sie den Hinweisschildern zur Autobahn. Deren Band schlängelte sich in einem überflüssigen Schlenker erst nach Osten und schließlich Berlin zu, dem nächsten Ziel der beiden Männer. Sie hofften auf ein Auto oder wenigstens ein Motorrad. Aber selbst, wenn sie das Glück gehabt hätten und auf einen fahrbaren Untersatz gestoßen wären – die Völkerwanderung auf der Autobahn hätte jedes Vorankommen mit einem Fahrzeug unmöglich gemacht. Überall waren Menschen unterwegs, allein oder in kleinen Gruppen. Es mussten Tausende sein, die die mehrspurigen Fahrbahnen bevölkerten und aneinander vorbei ihren ach so wichtigen Zielen zuliefen. Keiner beachtete mehr den anderen – weder die Lebenden noch die Kranken noch die Toten am Fahrbahnrand. Aufmerksamkeit und gierige Blicke ernteten nur die unvorsichtigen Kinder, die vor den Au gen der Karawane in einen Apfel oder ein Stück Wurst bissen, weil sie es bis zur abendlichen Rast und dem damit verbundenen heimlichen Mahl nicht mehr aushielten. Nicht selten verursachte die Sorglosigkeit dieser einzig mit ihrem Hunger beschäftigten Kinder eine Massenschlägerei um einen angebissenen Apfel. Nicht selten gab es dabei Verletzte oder Tote.
    Rechts und links, oft aber auch mitten auf den Fahrbahnen, standen Fahrzeuge mit leeren Tanks. Und überall hatte es Unfälle gegeben. Bei Völschow einen besonders schlimmen. Ein Kleinbus war hier in einen querstehenden Lkw gerast. Die Insassen, ein Ehepaar und ihre vier Kin der, saßen noch immer angeschnallt auf ihren Plätzen und glotzten aus leeren Augenhöhlen auf die Anhängerkupplung des Lasters, der ihren Familienausflug beendet hatte. Jemand hatte den Kofferraum geöffnet und das Gepäck untersucht. Überall auf der Straße la gen Koffer und Reisetaschen, Kleidungsstücke und eine Transportbox für Katzen. Das Tier war inzwischen verdurstet. Durch die zersplitterten Scheiben waren Vögel, vielleicht auch Marder oder Hunde, in das Auto gekommen. An Hals, Händen und in den Gesichtern hatten die Leichen Bissspuren, die Vögel hatten ihnen die Augen herausgepickt. Ein Mädchen hielt noch immer ihre Puppe im Arm.
    Hans Seger hatte sich übergeben müssen. Das Mädchen, vor allem aber ihre Puppe, erinnerte ihn an Lea. Er bekam einen Weinkrampf und Malow brauchte fast eine Stunde, um Seger zu beruhigen und zum Weitergehen zu bewegen.
    An einem zweiten Unfall, nur drei Kilometer vom ersten entfernt, verließen sie die Autobahn. Die Fahrbahn war hier mit Nägeln und Scherben übersät. Mehrere Fahrzeuge standen mit geplatzten Reifen umher. Aber im Gegensatz zu den bisherigen Unfällen, bei denen die Opfer immer sichtbar an den Folgen eines Zusammenstoßes gestorben waren und sich noch in ihren Fahrzeugen befunden hatten, waren hier alle Autos leer. Sie fanden Blut in und neben den Fahrzeugen, aber nirgendwo deren Besitzer. Türen und Kofferräume standen weit offen, vom Gepäck keine Spur.
    Die Erklärung fand Malow, als er einer blutigen Schleifspur an den Fahrbahnrand folgte. Wie auf einer Mülldeponie, achtlos am Fuß des Dammes aufgetürmt, auf dem die Fahrbahn verlief, stapelten sich Leichen. Männer, Frauen und Kinder in einem wilden Durcheinander aus leeren Gesichtern, Armen und Beinen. Die wenigsten waren noch bekleidet. Malow entdeckte zwei Ratten. Sie stritten um etwas. Ein Stück Fleisch, einen Finger vielleicht. Beide an dem Etwas hängend zogen sie sich hin und her, kamen sich nahe, richteten sich aneinander auf. Im Gegenlicht

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