Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
Vom Netzwerk:
Männer rochen wie eine Fata Morgana. Etwas an ihnen stieg Silvia in die Nase und sie stand plötzlich in einem Laden voller überquellender Regale. Seit Tagen ernährte sie sich von dem, was sie fand, was ihr das Mitleid anderer zuwarf oder − sie schämte sich dafür − was sie verdiente.
    Silvia war hässlich, vielleicht sogar wirklich die hässlichste Frau der Welt, wie Hans und Malow bei ihrem Anblick dachten. Oder, wenn nicht die hässlichste, so doch eine aus der vordersten Riege der Hässlichen. Sie hatte rotblondes, dünnes Haar. Seit dem 23. Mai ungewaschen, klebte es ihr in fettigen Strähnen am Kopf. Die Brille, die sie trug, verformte ihre ohnehin bereits hervorquellenden Augen zu kleinen Tellern. Diese Teller sorgten regelmäßig zuerst für Erschrecken, danach für Belustigung. Sie hatte es sich deshalb angewöhnt, mit gesenktem Kopf durchs Leben zu gehen und in Gesprächen, in Geschäften oder in der Philharmonie auf die Hände ihres Gegenübers zu sehen statt in dessen Gesicht. Seitdem ging es ein wenig leichter.
    Sie hatte hellgrüne Augen und eine Hasenscharte, die, wenn sie sprach, ein feuchtes Zischen produzierte, ähnlich dem Schniefen einer Dampflok. Ihr Kinn war lang und spitz, wie auch Silvias Nase. Ihr Gesicht und ihre klanglose Stimme berührten jeden auf unangenehme Weise und den komplizierten Weg zum Bahnhof hätte ihr nur ein Blinder ausführlich erklärt. Das Auge isst mit. Vor Kannibalen war sie sicher.
    »Gott ist ein Geizkragen«, sagte Malow am Abend, als er mit Hans allein war. »Die Frau sah aus, als hätte es ihrem Schöpfer leid getan, all die aussortierten Augen, Nasen und Haare, die bei der Herstellung seiner Ebenbilder anfallen, einfach so wegzuwerfen. Und aus den scheußlichsten Einzelteilen hat er dann ihr Gesicht zusammengezimmert.« War vielleicht etwas übertrieben, entbehrte allerdings nicht jeder Grundlage. Sie zählte nicht zu den Meisterwerken der Schöpfung, ein Umstand, der sie einsam machte und ihr die Musik gebracht hatte. Während andere Kinder mit Gleichaltrigen auf dem Spielplatz tobten, versteckte sie sich und ihre empfindliche, schneeweiße Haut in ihrem Zimmer und klammerte sich an ihr Cello. Das Instrument verstand sie, dem Instrument war ihr Aussehen egal.
    Silvia hatte die ersten Tage nach der Katastrophe in ihrer Wohnung am Stadtrand Berlins ausgeharrt und sich abwechselnd um Larissa, ihre Tochter, und das Cello gekümmert. Als aber irgendwann alle Schränke in der Küche leer waren, sie es vor Hunger kaum noch aushielt und Larissa an Brüsten saugte, die kaum noch einen Tropfen Milch hergaben, hatte sie das Nötigste zusammengepackt und die Stadt verlassen. Sie wollte ins Ruhrgebiet zu ihren Eltern.
    Ihre Hässlichkeit, vor allem aber das weite, sackartige Kleid, das ih ren Körper versteckte, rettete sie und die Kleine auf ihrem Weg durch die Stadt. Immer, wenn sie von enthemmten Männern angehalten wurden, brauchte sie nur den Kopf zu heben und konnte unbehelligt weiterziehen. Vielleicht hatte Gott, als er sie mit diesem Gesicht strafte, bereits ihren Auszug aus Berlin vor Augen, wusste natürlich um je den Moment dieser Zukunft. Und wollte Silvia und ihre Tochter unbedingt retten. Gottes Wege sind eben doch unergründlich.
    Silvia hatte sich, abgesehen von Larissas Vater, nie von einem Mann berühren lassen. Weder hatte sie Sehnsucht nach einer solchen Berührung noch gab es Männer, die sie berühren wollten. Jedenfalls nicht, nachdem sie gesehen hatten, wem dieser Körper gehörte. Und das, obwohl ihr Körper jeden Mann um den Verstand bringen konnte – das absolute Gegenteil zu ihrem Gesicht. Perfektion in jeder Hinsicht. Bei Silvia hatte Gott keine halben Sachen gemacht, weder in die eine noch in die andere Richtung.
    Hans und Malow gingen an ihr vorbei und zwinkerten sich zu. Sie waren nach ihrem ausführlichen Frühstück satt und fühlten sich so gut wie seit zwei Wochen nicht mehr.
    Silvia legte ihre Tochter auf eine Decke ins Gras, rannte den Männern hinterher und überholte sie. Sie stellte sich ihnen in den Weg, den Blick auf ihre nackten Füße.
    »Haben Sie vielleicht etwas zu essen für mich?« Sie wischte sich mit dem Handrücken die feuchte Oberlippe ab und wartete auf eine Antwort.
    »Tut uns leid«, sagte Malow und zog Hans Seger am Arm. »Tut uns wirklich leid.«
    Sie waren schon fast an ihr vorbei, als sie ebenfalls nach Hans’ Arm griff.
    »Wenn schon nicht für mich, dann doch wenigstens für meine Kleine. Sie liegt da

Weitere Kostenlose Bücher