Rattentanz
organisieren? Was für eine Gesellschaft wird sich aus diesem ganzen Chaos entwickeln?«
»Schwer zu sagen.« Die Menschen, die sie auf ihrem Weg hierher getroffen hatten, gaben wenig Anlass, auf eine neue Gesellschaft zu hoffen. »Ich denke, es wird erst mal ein Nebeneinander winziger Gesellschaften geben. Die besten Überlebenschancen haben sicher die kleinen Dörfer. Wie das Nest, aus dem wir unsere Rucksäcke haben.«
»Und dann?«
»In ein paar Wochen oder Monaten, wenn jeder einen Platz gefunden hat, an dem er leben kann und will und darf, werden die Dörfer sicher Kontakt zueinander suchen. Aber nicht, bevor nicht all die marodierenden Banden verschwunden sind.«
»Aber genau die scheinen das Problem zu sein.«
Sie waren an Dörfern vorbeigekommen, verbrannt und ausgeraubt von fast militärisch organisierten Banden, wie einer der wenigen Überlebenden berichtet hatte.
»Wer soll es mit diesen Gruppen aufnehmen? Bauern mit Mistgabeln im Kampf gegen Maschinengewehre?«
»Die Munition wird nicht ewig halten«, erwiderte Hans. »Vielleicht werden sich diese Gruppen irgendwann gegenseitig dezimieren, was weiß denn ich. Ich hoffe nur, dass es bei mir daheim besser aussieht.«
Hans nahm noch einen Schluck. Der Wein zeigte bereits seine Wirkung und Hans fühlte sich körperlich schwer, gleichzeitig flatterte sein Geist munter und so unbeschwert wie seit Tagen nicht mehr. Alles war gut in Wellendingen. Alles musste gut sein.
»Wie viele wohl inzwischen gestorben sind? Das ganze Chaos am Anfang, die Flugzeugabstürze müssen Tausenden das Leben gekostet haben. Dann die Plünderungen und die Gewalt.«
»Und der ganze Spaß fängt ja jetzt erst so richtig an, interessant zu werden. Zuerst die eigentliche Katastrophe mit ihren unmittelbaren Folgen, danach − und das wird wohl genau jetzt sein − die mittelbare Folge Hunger. Von der ganzen Stadtbevölkerung wird wohl kaum jemand überleben.«
»Wenn sie in den Städten bleiben, sicher nicht − aber hier, auf dem Land?«
»Auch hier nicht. Freiwillig wird kein Dorf etwas rausrücken und mit ihrer Hände Arbeit können sie ebenfalls nicht überleben. Im Moment werden Bauern gesucht, schätze ich, Leute, die wissen, wie man ein Brot bäckt, wie man eine Säge schärft und welche natürlichen Mittel es gegen Kartoffelkäfer gibt. Schuhverkäufer, Computerexperten und Wissenschaftler können getrost ihren unbezahlten Urlaub genießen, die braucht keiner mehr.«
Malow dachte einige Sekunden über Hans’ Worte nach. Alles lief auf eine Vielzahl winziger Agrargesellschaften hinaus, die sich gegeneinander abschotteten und auf eine bessere Zukunft hofften. Dazwischen die Heere organisierter Plünderer und Millionen umherziehende Menschen auf der Suche nach ein paar Krümeln, Würmern oder Blättern.
»Weißt du, wie lange es dauert, bis ein Mensch verhungert?« Hans musste an Silvia und Larissa denken. Hatten beide eine Chance auf ein Leben in dieser neuen Welt? Wie lang konnte ihr Körper beide ernähren? Hatte er ihnen wirklich einen Gefallen getan, als er ihnen von seinen Vorräten gab oder damit nur ihr Leiden um ein paar Tage verlängert?
»Wenn man ausreichend Wasser hat, kann man durchaus einige Wochen dahinsiechen.«
»Das Schlimmste wäre, wenn ich zusehen müsste, wie meine Fami lie langsam verhungert. Ich wäre wahrscheinlich zu allem bereit, nur um meiner Tochter einen Apfel oder ein Stück Brot zu beschaffen.«
»Womit wir bei der Gewalt wären, die nicht von kriminellen Horden verübt wird, sondern die sich in den kommenden Wochen hinter jedem Baum und jeder Wegbiegung verstecken kann. Die Verzweiflung wird in Resignation, danach wahrscheinlich in Wut und Gewalt umschlagen. Es wird ein paar Tage dauern, bis all die zivilisierten Bürger begriffen haben, dass sie, um zu überleben, genau zu den Methoden greifen müssen, die in jeder funktionierenden Gesellschaft verpönt sind: Gewalt, Selbstjustiz, Diebstahl. Viele werden sich wahrscheinlich nicht dazu überwinden können und nach und nach verhungern oder Selbstmord begehen. Aber einige, und das dürften aller Voraussicht nach Männer und Frauen mit Kindern sein, werden als letztes Mittel zur Gewalt greifen; weniger um sich als um ihre Kinder zu retten. Kinder sind unsere einzige Hoffnung, Hans. Alles, was wir jetzt noch haben.«
Sie starrten in die Glut. Hans beneidete Malow um dessen Unabhängigkeit. Malow war ein freier Mann, der für niemanden die Verantwortung trug und sich um nichts sorgen
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