Rattentanz
konnte. Und das einzige Kapital, das sie hatte, war ihr wunderbarer Körper.
Sie drückte das Geschenk an ihre Brust und versuchte ein (hässliches) Lächeln. Hans nickte ihr zu, dann drehte sie sich um und rannte zu ihrer Kleinen.
»Danke!«, rief sie.
»Wenn Sie so weitermachen und den barmherzigen Samariter spielen, stehen wir in ein paar Tagen erneut mit leeren Taschen da!« Malow war zornig. Zu Recht, wie er fand und wie auch Hans Seger eingestand. Aber was sollte er machen? Er war noch nicht so weit, dass er an einer Mutter − und sei sie auch noch so hässlich − vorbeigehen konnte, im Wissen, dass er hätte helfen können, dass er dem Kind hät te helfen können. Er hatte um diesen Rucksack voll Essen gekämpft, wenn man einen hinterhältigen Schlag mit einem Knüppel als kämpfen bezeichnen wollte, also hatte er auch das Recht, seinen Anteil der Beute zu verschenken.
In den folgenden Stunden wanderten sie ohne viele Worte nebeneinander her. Hans dachte an Eva und Lea und an den Hunger der Kleinen von eben. Wie verzweifelt musste eine Mutter sein, dass sie ihren Körper zwei wildfremden Männern anbot? Allein, nur für sich verantwortlich, wäre sie sicher lieber verhungert als auf diese Weise zu überleben. Aber sie war für das schreiende Bündel dort im Gras verantwortlich. Malow dachte an Lena. Wie viele Tage waren vergangen, seit er sie allein zurückgelassen hatte? Eine Woche? Mehr, weniger? Es war auch egal. Inzwischen musste sie tot sein und er brauchte nicht mehr zu lügen, wenn er erzählte, dass er verwitwet war. Er such te nach einer Entschuldigung für seine Flucht, Worte, die einem Außenstehenden alles erklären konnten. Er hätte sich Hans gern anvertraut, wusste aber, dass niemand − und sei er auch noch so fantasie begabt und wohlwollend − die vergangenen siebenundzwanzig Jah re würde nachempfinden können. Und damit auch nicht seine Flucht. Was sollte sich auch ändern, wenn er darüber redete wie ein altes Weib? Er empfand keine Last und keine Schuldgefühle, die ein Gespräch ihm abnehmen konnte. Was er getan hatte, war feige, war Verrat. Und er hatte viel zu lang damit gewartet. Fast wäre es zu spät gewesen, zu spät für einen Neuanfang und ein eigenes Leben. Aber nur fast.
Am Abend suchten sie sich an einem kleinen See westlich der Hauptstadt ein Nachtlager. Sie aßen bedächtig und hielten Wurst-und Käsestücke in ein kleines Lagerfeuer. Als sie satt waren, kramte Henning Malow in seinem Rucksack und zauberte zu Hans’ Erstaunen zwei Flaschen Cabernet Sauvignon hervor. Malow lächelte, die Überraschung war ihm gelungen.
»Wie unromantisch«, sagte Malow, als er den Schraubverschluss öffnete. Er schnupperte, kostete einen winzigen Schluck, dann gab er die Flasche Hans.
»Auf uns!«
Henning Malow und Hans Seger tranken. Sie beobachteten den purpurnen Abendhimmel und seine Spiegelungen im See und ließen das Feuer niederbrennen. Ihnen stand eine milde Nacht bevor.
»Ich heiße übrigens Henning. Aber nenn mich ruhig Malow.«
»Hans. Eigentlich Johannes, aber auf diesen Namen höre ich schon gar nicht mehr.«
Im Wald hinter ihnen, der sich langsam in eine schwarze Mauer verwandelte, raschelte es im Unterholz.
»Sollen wir nach Berlin abbiegen und mal im Kanzleramt nachfragen, wer den ganzen Schlamassel verbockt hat?«, fragte Hans.
»Und wann sie gedenken, den Schalter wieder auf ON umzulegen?«
»Glaubst du, der Schalter wird irgendwann wieder umgelegt?« Jeder, dem der tägliche Überlebenskampf ein paar Minuten zum Nachdenken ließ, grübelte über diese alles entscheidende Frage nach. Je mehr sich das Leben auf seiner linearen Zeitachse aber von diesem schicksalhaften 23. Mai entfernte, ohne dass auch nur ein winziges Indiz Hoffnung auf Änderung verstrahlte, desto unwahrscheinlicher wurde eine Rückkehr zum Alten.
»Ich gestehe es mir ungern ein«, sagte Malow, »aber wenn es irgendwo noch eine funktionierende Regierung gäbe, wäre sie schon aktiv geworden. Vielleicht ein Hubschrauber, der Lebensmittel in besonders betroffenen Regionen verteilt. Oder ein Abgesandter, der die Leute beruhigt und ihnen erklärt, was geschehen ist.«
»Dann ist das also die Welt, mit der wir uns arrangieren müssen«, konstatierte Hans. Er klang traurig.
»Die Welt ist die gleiche, wir haben uns nur verändert.«
»Unser Zusammenleben.«
»Was vermutest du«, Malow kratzte sich mit beiden Händen am Kopf und sehnte sich nach einer Dusche, »wie wird sich alles
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