Rattentanz
oder Berlin oder jemand hatte in einem der verlassenen Häuser einen Keller voller Kartoffeln gefunden. Pessimisten vermuteten, dass trotz aller Vorkehrungen das Massengrab auf dem Hardt undicht war, Gift ins Grundwasser sickerte und sie das Dorf aufgeben mussten. Vielleicht war auch eine ansteckende Krankheit ausgebrochen.
Basler lächelte weltmännisch in die Runde. Als Einziger trug er einen Anzug, ein fast faltenfreies Hemd und eine Krawatte. Er wirkte wie ein Fossil, ein Besucher aus einer Welt, an die sich jeder zwar noch erinnerte, die aber schon so weit weg war, dass Baslers Auftritt schon fast kurios wirkte.
»Wie ihr sicher alle wisst, geht es einem aus dem Rat, den ihr gewählt habt, nicht besonders gut.« Im Saal erhob sich ein leises Murmeln. Fausts Name wurde geflüstert und dass er ein Trinker war oder ist und ihn das krank mache. Manche hatten seine Schreie gehört, andere wussten, dass er wahnsinnig geworden war und demnächst sterben würde. Susanne, die mit Eckard Assauer und dem Pfarrer in einem dunklen Winkel des Schankraumes saß, senkte den Kopf und sah auf die fleckige Tischplatte. Sie schämte sich für ihren Mann. Ein Alkoholiker. Bisher hatte es noch nie etwas Ähnliches in ihrer Familie gegeben. Susanne wusste, dass man über Frieder redete − und natürlich auch über sie. Alkoholiker, so bisher ihre eherne Ansicht, waren verkommene, schmutzige Gestalten, die vor Supermärkten hockten, das Pfand der Einkaufswagen erbettelten und es anschließend in eine Flasche billigen Fusel umsetzten. Alkoholiker waren Ausgestoßene. Susan nes Ohren glühten; sie spürte das Mitleid in den Blicken der ande ren.
»Keiner weiß, wie lange es noch dauert, bis Frieder wieder im Rat mitarbeiten kann. Wir vermissen ihn sehr, vor allem seine Ideen und seine anpackende Art.« Wieder Murmeln. »Warum wir euch hier zusammengerufen haben: für die Zeit, die Frieder noch ausfällt, brauchen wir im Rat ein fünftes Mitglied, einen Vertreter für Frieder Faust. Zu viert ist es schwer, Entscheidungen zu treffen, denn im ungünstigsten Fall gibt es bei Abstimmungen ein Patt, das uns nicht weiterbringt. Außerdem gibt es wichtige Fragen, die wir bisher aufgeschoben haben, die aber dringendst geklärt werden müssen.«
»Zum Beispiel?«
Die Dunkelheit in dem niedrigen Raum und das grelle Tageslicht, das durch die offenen Fenster einfiel, blendeten Basler. Aber er wusste auch so, wer der Frager war. Eugen Nussberger, dessen chronischer Husten in den letzten Tagen deutlich besser geworden war. Ein Leben ohne Zigarren hatte er sich niemals vorstellen können. Genauso wenig wie ein Leben ohne seine Schwester. Aber beides ging.
»Wir müssen an den Winter denken, Eugen.«
Wieder Unruhe im Saal. Niemand war hier, der sich vorstellen wollte, dass diese Katastrophe noch bis zum Wintereinbruch andauern könnte. Aber hatte es vor zwei Wochen noch Entsetzen oder Gelächter gegeben, wenn jemand diese Vermutung ausgesprochen hatte, blieb es heute still. Niemand hatte diese Katastrophe für möglich gehalten. Und sie war doch gekommen. Niemand hatte daran geglaubt, dass es länger als ein paar Stunden, höchstens Tage dauern würde, bis alles wieder normal wäre, und es war doch ganz anders gekommen.
»Wir müssen Vorräte anlegen, wenn die Erntezeit einsetzt. Wir müs sen uns um Holz für den Winter kümmern. Und wir müssen das alles organisieren. Es geht nicht, dass jeder sein eigenes Ding macht. Wir müssen unsere Arbeit noch besser koordinieren. Bubi und Martin bewachen uns momentan jede Nacht allein. Sie brauchen mindestens noch zwei Helfer, die sie unterstützen. Und und und. Alles Punk te, über die wir im Rat diskutieren und entscheiden müssen.«
»Ich schlage Markus Thoma vor«, kam es aus dem Dunkeln.
»Genau.« Eugen Nussberger war aufgestanden und kratzte sich am Bart. »Genau«, sagte er noch einmal und setzte sich wieder. Thoma, der Lehrer der kleinen Wellendinger Grundschule, hatte seit vier Tagen wieder mit dem Unterricht begonnen. Außer am Wochenende unterrichtete er jeden Vormittag vier Stunden, weniger um den Kindern, die das Angebot dankbar annahmen, etwas beizubringen, als ihnen ein kleines Stück Normalität zurückzugeben. Inzwischen zählte seine Klasse achtzehn Schüler zwischen sechs und dreizehn Jahren und fast täglich erschien ein neues Kind.
Der Vorschlag, Thoma in den Rat aufzunehmen, wurde zwar nicht mit Begeisterung aufgenommen, aber außer von Nussberger auch noch von zwei oder drei
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