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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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Überlaufen bringen musste. Er ließ Hans zurück auf die Decke fallen. »Ich – lasse – dich – nicht – allein!« Einmal genügte. Diesmal würde er nicht davonlaufen. Diesmal nicht.
    Er wollte gerade die Achse neu ansetzen, als ihn ein Geräusch und ein leiser Aufschrei stocken ließen. Dann rollte Hans Segers vermisster Rucksack vor seine Füße. Larissa fest im Arm, rutschte Silvia im ersten Morgenlicht hinterher. Verlegen zog sie ihr nach oben gerutsch tes Kleid nach unten und murmelte ein »Guten Morgen.«
    Hans und Malow starrten sie wie einen Geist an. Sie brauchten einige Sekunden, um das schmutzige Gesicht zu identifizieren, aber dann wussten sie, wer vor ihnen stand.
    »Sie?« Malow ließ die Achse los und Hans verzog folgerichtig das Gesicht. »Was machen Sie denn hier?«
    »Ich bin Ihnen heimlich gefolgt«, sagte Silvia so leise wie möglich. Sie wusste auch nicht, warum sie ihre Tarnung aufgab und die Beute, für die sie Kopf und Kragen riskiert hatte, so mir nichts, dir nichts wieder hergab. Mitleid, vermutete sie. Hans Seger hatte vor zwei Tagen Mitleid mit ihr gehabt, jetzt war sie an der Reihe. Hätte Malow an Hans’ Stelle gelegen, wäre ihre Entscheidung mit Sicherheit anders ausgefallen. Sie hatte Mitleid mit Hans Seger, außerdem hatte sie dieses Unglück ausgelöst.
    Malow betrachtete die Frau, dann den fehlenden Rucksack und zählte eins und eins zusammen. »Sie waren heute Nacht auch schon hier, oder?« Silvia nickte. »Dann ist wegen Ihnen die ganze Scheiße hier zusammengestürzt?« Wieder ihr stummes Nicken.
    Malow sprang zu Silvia hinüber und packte sie an den Schultern. Wäre Larissa nicht gewesen, er hätte sie in den Dreck geworfen und getreten und geschlagen. Sie war an allem schuld, sie, die hässlichste Frau der Welt und ihr unnützer Balg.
    Er schüttelte sie und packte sie an den Haaren.
    »Da, sehen Sie hin. Schauen Sie sich genau an, was Sie angerichtet haben!« Er drückte ihr Gesicht nach unten, sodass ihre Nase fast Hans’ Bein berührte. Larissa fing an zu weinen.
    »Lass sie!«, hörte er Hans schreien. »Lass sie in Ruhe! Jetzt ist es zu spät.«
    Malow spuckte auf den Lkw. Dann ging er zur Seite und trat gegen einen Reifen.
    »Gemeinsam könnten wir ihn vielleicht befreien.« Silvia stand auf und sah Malow an. »Wenn wir uns gemeinsam auf die Stange lehnen …«, sagte sie. Sie sprach leise und hatte Angst.
    »Achse«, korrigierte sie Malow. Er wollte sie bereits aufs Neue beschimpfen (so dumm konnte auch nur eine Frau sein und eine Achse nicht von einer Stange unterscheiden), als ihre Worte in sein Bewusst sein drangen. Er sah zu Hans herüber, der neue Hoffnung geschöpft hatte und auf Malows Reaktion wartete.
    »Von mir aus«, knurrte er und nahm die Achse. »Leg das Kind weg.«
    »Geben Sie her«, sagte Hans. »Ich werde sie so lange halten.«
    Malow setzte die Achse neu an. »Fass hier an.« Gemeinsam legten sie ihr ganzes Gewicht auf den Hebel. Das Fahrerhaus bewegte sich, ganz langsam, aber deutlicher als bei Malows erstem Versuch. Hans spürte, wie der Druck auf seinem Bein verschwand, schon konnte er das Bein ein kleines Stück bewegen.
    »Noch ein bisschen. Nur ein paar Millimeter. Ihr schafft es.« Er stemmte sich vom Boden ab, so fest er nur konnte. Noch hielt ihn etwas fest, dann war er plötzlich frei. Hans rutschte aus der Gefahrenzone. Larissa lag auf seiner Brust und starrte ihn an.

91
    10. Juni, 11:19 Uhr, Wellendingen
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    Nach dem sonntäglichen Gottesdienst versammelte sich ein Großteil der verbliebenen Einwohner Wellendingens im Gasthaus Krone. Pfarrer Kühne hatte im Anschluss an seine Predigt (Nächstenliebe, Teilen, Vergeben und Hoffen) eine kurze Botschaft des Wellendinger Rates verlesen. Basler, der sich am Vorabend endlich durchgesetzt hatte und die anderen davon überzeugen konnte, Fausts Platz im Rat vorerst einem anderen zu geben, hatte ihn darum gebeten. Hildegund Teufel hatte darauf bestanden, dass dieses neue Ratsmitglied vom Dorf gewählt werden musste. Auch durfte sein Mandat nur bis zu Fausts Rückkehr oder dessen endgültigem Abschied aus dem Rat gelten. Wohl oder übel musste sich Basler den anderen beugen, hoffte aber insgeheim, Bubi den Posten zuschanzen zu können. Fausts Sohn wäre sein geeigneter Kandidat.
    Der von Roland Basler angeführte Tross aus der Kirche passte heute problemlos in die Wirtsstube. Niemand musste mehr vor den Fenstern im Freien stehen.
    Am 23. Mai, dem Tag, an dem die Lichter ausgingen, zählte

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