Rattentanz
Mund stopfen. Und Zeit hätten Sie doch auch, oder?«
Assauer nickte. »Aber ich kenne mich doch viel zu wenig hier im Ort aus. Und wen kenne ich denn schon?«
»Muss ja kein Nachteil sein, wenn sie nicht mit der einen Hälfte des Dorfes verwandt sind und die andere Hälfte nicht leiden können«, sagte Thoma, der Lehrer.
Basler musste zusehen, wie ihm die Versammlung nun doch entglitt. Viele der Anwesenden zögerten, aber je länger über Nussbergers Vorschlag diskutiert wurde, desto mehr Zustimmung erntete der. Ungern hätte man Bubi das Mehr an Verantwortung aufgebürdet, vor allem, da die Ratssitzungen meist am Abend stattfanden, wo Bubi normalerweise zu seiner eigentlichen Arbeit aufbrach. Assauer schien da vielen eine ideale Alternative. Der Mann wirkte intelligent und er hat te Zeit.
Basler startete einen letzten Versuch: »Nichts gegen Herrn Assauer, aber wir wissen doch gar nicht, ob Sie überhaupt im Dorf bleiben wollen. Vielleicht packen Sie morgen Ihre Tasche und ziehen weiter. Schließlich gibt es hier nichts, was Sie hält.«
»Doch.« Assauer hatte sich erhoben und im Saal wurde es augenblicklich still. Viele kannten den in sich gekehrten Mann nur von seinem Eintreffen im Ort, als Bubi ihn auf dem Hardt gefunden und mit ihm in eine der ersten Dorfversammlungen geplatzt war – zerlumpt und mit dem Blut seines Enkels befleckt.
»Es gibt etwas, das mich hier hält: Hier ist das Grab meiner Tochter und meines Enkels. Wo auch immer ich hingehen könnte, ich wäre allein. Die beiden waren alles, was ich hatte. Ich werde Wellendingen nicht verlassen, es sei denn, Sie fordern mich eines Tages dazu auf.« Er sah zuerst Roland Basler in die Augen, bis dieser den Blick senkte, dann in die Runde. »Ich dränge mich nicht nach dieser Aufgabe. Aber sie gibt mir die Möglichkeit, Ihnen allen etwas von dem zurückzugeben, was Sie mir Gutes getan haben.«
Noch am selben Abend trafen sich die alten und das neu gewählte Mitglied des Rates in Hildegund Teufels kleiner Wohnstube. Es gab Tee, das Einzige, was derzeit noch im Überfluss verfügbar war.
Assauer betrat den Raum in Christoph Eiseles Begleitung. Im Türrahmen blieb er stehen. Er wartete, bis jeder seinen angestammten Platz eingenommen hatte, dann setzte er sich aufs Sofa und hatte − ebenso wie vor ihm Faust, den er vertreten sollte − Mühe, über die Tischkante zu blicken. Aber der Platz gefiel ihm – er war weich und warm und die tiefe Position hatte den für einen Neuen nicht zu unterschätzenden Vorteil, ein wenig aus dem Blickfeld der anderen zu geraten. Er wollte ihnen zuhören. Zuerst schauen war seit jeher seine Devise. Schauen und, wenn man genug gesehen hatte, sich ein Bild von der Sache und den Menschen machen. Und erst dann war Zeit für eigene Ideen und vor allem die Zeit für Worte.
»Schön, dass Sie hier sind.« Hildegund Teufel lächelte. Der Kräutertee duftete und auf dem kalten Kachelofen blinzelte ihre Katze in die Runde.
»Wie sieht’s aus, Roland«, begann Bea Baumgärtner. »Was gibt’s Neues? Hast du Pläne oder Vorschläge?«
Basler, der ansonsten bei jedem Treffen automatisch die Eröffnung der Runde übernommen hatte, wirkte heute Abend erstaunlich abwesend. Statt wie gewohnt von seinen Leistungen der vergangenen Tage zu prahlen, spielte er mit seiner Tasse. Als Bea ihn ansprach, war ihm deutlich anzusehen, dass er Mühe hatte, in das Jetzt zurückzukehren. Widerwillig ließ er seine Gedanken ziehen. Sein erster Blick fiel auf Assauer, dem Grund seiner schlechten Laune. Bubi hätte hier sitzen sollen! Bubi und alles wäre viel leichter. Die Niederlage bei der Abstimmung um Fausts Vertretung hatte ihm gründlich den Abend verdorben. Mehr noch, sie konnte vielleicht der Anfang vom Ende sein. Basler war Anwalt und zu den Grundvoraussetzungen dieser Art Broterwerb gehörte es, Situationen und vor allem Menschen möglichst schnell und möglichst treffend einzuschätzen. Sein Instinkt verriet ihm, dass er bei der nächsten Abstimmung nicht noch einmal in dieses Amt gewählt werden würde.
Sie wollen einen Messias, der ihnen Brot und Wein tonnenweise von was-weiß-ich-woher vor ihre Türen schleppt, dachte er voll Zorn. Vielleicht war ja dieser Assauer der erhoffte Retter.
»Hunger«, sagte er schließlich. »Wir müssen etwas gegen den Hunger unternehmen.«
»Das wissen wir selbst!« Bea funkelte ihn über den Tisch hinweg an. »Wir wissen seit zweieinhalb Wochen, dass dies unser größtes Problem ist. Euer größtes
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