Rattentanz
das Dorf 403 Einwohner, am heutigen 10. Juni noch 232. Acht Personen, die am 23. Mai außerhalb des Dorfes unterwegs gewesen waren, darunter Hans Seger, wurden noch vermisst. Dreizehn Todesfälle hatte es gegeben, darunter den Mord an Adelheid Nussberger. Artur Wehinger starb bei Baumfällarbeiten, weitere Personen an ihren chronischen Krankheiten, die aufgrund fehlender Medikamentengabe außer Kontrolle geraten waren. Eine gestern beerdigte Vierundfünfzigjährige war, so befürchtete Eva Seger, Wellendingens erste Hungertote. 167 Frauen, Männer und Kinder hatten Wellendingen verlassen, darunter auch Georg Sattler. Seit er zu Fuß ins Stühlinger Krankenhaus aufgebrochen war, um sich Insulin zu besorgen, hatte keiner mehr et was von ihm gehört.
Zugezogen waren in dieser Zeit nur zwei Personen: Eckard Assauer und Thomas Bachmann. Die von Jürgen Mettmüller und Frieder Faust errichteten Straßensperren sorgten für eine effektive Umlenkung fast aller Reisenden und wenn sich doch einmal ein Fremder in den Ort verirrte, wurde er ohne Wenn und Aber bis zur nächsten Sperre geleitet und weitergeschickt. Man wollte keine Fremden, im Gegenteil: jeder Einwohner, der das Dorf verließ, erhöhte die Überlebenschancen der Bleibenden.
Das Äußere der Menschen hatte sich in den vergangenen neunzehn Tagen dramatisch verändert. Die Kleidung war jetzt durchweg praktischer Natur, ohne Tribut an den Zeitgeist und die Meinung der anderen. Und man sah den Kleidungsstücken an, dass sie in kaltem Wasser mit zunehmend weniger Waschmittel behandelt wurden; sie waren fleckig und ausnahmslos voller Falten. Erst das tagelange Tragen machte sie ein wenig glatter.
Unter den Männern trugen nur diejenigen keinen Bart, die sich vor der Katastrophe nass rasiert hatten. Wer vormals Elektrorasierer bevorzugt hatte, dem wuchs inzwischen ein mehr oder weniger langes Etwas im Gesicht, nur gelegentlich mit einer Schere gestutzt. Ein fast dramatischer Wandel hatte sich im Erscheinungsbild der Frauen vollzogen und hier vor allem in der Altersgruppe von Mitte dreißig bis um die sechzig. Vor zwei Wochen noch makellos schwarzes Haar wurde plötzlich an den Ansätzen grau oder weiß; Lack blätterte von Fuß-und Fingernägeln und darunter erschien der Dreck, den die ungewohnten Stall-, Garten-oder Feldarbeiten hinterließen. Lidschatten hatte ausgedient und die erprobte Faltencreme war längst leer. Lockiges und sorgsam gelegtes Haar war jetzt glatt und hing in dünnen, zunehmend fettigen Strähnen herab. Augenbrauen wurden weder gezupft noch nachgezogen – es gab heute Wichtigeres.
Wenige hatten sich in den ersten Tagen nach dem Flugzeugabsturz vorstellen können, dass dies nun das neue Zeitalter war, mit dem sie sich arrangieren mussten. Erst nach und nach waren sie in der Wirklichkeit angekommen. Niemand, der weder Krieg noch Hungerjahre er lebt hatte, hatte sich vorstellen können, wie lange es dauerte, bis alle Vorräte aufgebraucht waren, bis das Brot gegessen oder so hart und verschimmelt dalag, dass es ohne Gefahr für Magen und Zähne nicht mehr gegessen werden konnte. Niemand konnte sich ein Leben ohne Zucker und Kartoffeln vorstellen, niemand wusste, woher man Salz be kam, hatte der Großhandel über längere Zeit Nachschubprobleme. Wie lange dauert es, bis der Mensch allein ist, allein mit sich und dem, was ihm die Natur HEUTE gibt – ein wenig Milch vielleicht, ein Ei − wenn er Glück hat −, und eine Handvoll Beeren.
Unter den Frauen, Männern und Kindern, die sich im Gasthaus versammelten, gab es nur wenige, die keinen Hunger hatten. Roland Basler und seine Frau gehörten dazu. Obwohl sie selten bei körperlicher Ar beit gesehen wurden und das tägliche Melken für den eigenen Bedarf die einzige Arbeit war, für die Frederike Basler ihr Haus verließ, waren beide wohlgenährt. Noch besaßen sie einen nicht unerheblichen Vorrat Lebensmittel, den sie erfolgreich vor den anderen verbargen und dessen Herkunft zu einem Großteil auf Martin Kiefers Arbeit zurückging. Aber auch sie mussten sich einschränken und Basler wusste, dass er sich schleunigst eine eigene Einnahmequelle erschließen musste, wollte er sich nicht in das kleine Heer der Arbeitenden einsortieren.
Basler kletterte auf einen Tisch und hob beide Arme. Der Saal kam zur Ruhe und alle warteten auf das, was ihnen der Rat mitzuteilen hatte. Natürlich hatte man auf dem Weg zwischen Kirche und Gasthaus Vermutungen angestellt: vielleicht gab es Nachrichten aus Stuttgart
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