Rattentanz
Toooood!, jammerte Nummer drei. Hihihi, du − lieber, kleiner Onkel Tod, / ich wünsche mir, ich wär’ dein Brot! / Und jetzt beende unsre Qual, / denn heute, da sind wir dein Mahl!, dichtete er mit mäßigem Talent.
Zuerst waren da die beiden Stimmen. Fremde Stimmen, die nicht aus seinem Kopf zu ihm sprachen, sondern sich aus einer undefinierbaren Ferne leise Gehör verschafften. Thomas wusste nicht, ob die Stimmen von Anfang an hier waren oder ob sie erst später einsetzten. Als er sie schließlich bewusst wahrnahm, versuchte er sie zu verstehen, legte das Ohr an verschiedene Stellen der Kabinenwände und lauschte, aber die Stimmen blieben fern und unverständlich und so verlegte er sich schließlich aufs Zuhören. Irgendwann aber verstumm te die eine, die männliche Stimme. Oder verwandelte sie sich? Aus Worten wurde Keuchen, aus Sätzen Röcheln!
Hörst du die Stimme des Todes?, flüsterte Nummer drei. Hörst du, wie er sich durch die Gedärme des sterbenden Krankenhauses quält? Er kicherte. Es ist der Toood! Er kommt, uns zu holen, hihi. Endlich hat er uns gefunden …
Sei still!, fuhr Nummer zwei dazwischen. Sie hatte Angst. Vielleicht, wenn wir uns ganz leise verhalten, übersieht er uns und geht zu den an- deren. Hier ist genug Siechtum und Tod, genügend Fäulnis, die ihn an locken sollte. Sei still, und er wird uns nicht finden.
Thomas befolgte den Rat und verkroch sich in eine der hinteren Ecken der Kabine. Er verhielt sich still und versuchte sich klein und unsichtbar zu machen. Dann kamen ihre Schreie, ihre Rufe nach Hilfe! Und das Röcheln erstarb. Jetzt hat der Tod etwas gefunden, hihihi. Ein leckeres kleines Früh stück vielleicht. Klingen ihre Hilferufe nicht wundervoll? So viel Angst, so viel Verzweiflung. Aaah, welch’ Leckerbissen werden wir erst für ihn sein!
Thomas hörte fernes Klopfen und Hilferufe, aber sie wurden schwächer und zerflossen letztendlich in Resignation und Stille. Köstliche Stille.
Ohhh, jetzt ist er fort. Nummer drei klang ehrlich enttäuscht. Und er hat uns vergessen.
Vergessen! Was immer sich da in den Aufzugsschächten befand, es hatte ihn vergessen, hatte ihn übersehen und er war gerettet! Thomas klammerte sich an diese Hoffnung und er spürte, wie neuer Mut in ihm erwachte. Er lauschte, aber alles blieb still.
Stille kann etwas Wundervolles sein, wenn sie beruhigt und vom Ende einer Bedrohung erzählt, wenn sie tröstend Ängste erstickt und sich wie eine Arznei über die geschundene Seele legt. Dann ist Stille der Rettungsanker.
Aber gerade als Thomas sicher zu sein glaubte, die Gefahr überstanden zu haben, kreischte ein ohrenbetäubendes Quietschen und Ächzen durch den Schacht. Donnerschläge fuhren dazwischen und rollten zu ihm herab. Thomas sank sofort wieder in sich zusammen. Er zitterte in seiner Kabinenecke und weinte. Er hatte Todesangst, wein te lautlos und ohne Tränen. Wie Hammerschläge tönte es, dazwi schen glaubte er Stimmen zu hören, angestrengte Stimmen, die kämpften und sich mühten. Dann ein markerschütterndes Krächzen, wie von zerberstendem Metall, gefolgt vom hemmungslosen Schluchzen einer Frau.
Das Schluchzen entfernte sich. Die anderen Stimmen gingen weg. Erneute Stille.
Trügerische Stille?
»Ist es endlich vorbei?«, hörte er sich fragen.
Nummer eins zögerte. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wir wissen nicht, was kommt und was war. Thomas, er sah auf, als hätte er einen Gesprächspartner aus Fleisch und Blut vor sich, wir wissen nicht, was kommt. Aber du, nur du allein, kannst allem widerstehen, wenn du nur an dich glaubst! Kraft kann nur aus dir entstehen und nur du bist in der Lage, deine Kraft zu finden und zu nähren, Thomas! Rette uns, beschwor ihn die vertraute, tiefe Stimme, rette uns, indem du dich rettest!
Wie kann einer allein nur so viel melodramatischen Sülz erzählen? Die Stimme von Nummer drei war eine Mischung aus Abscheu und Langeweile.
Du verstehst nichts davon!, rügte Nummer zwei. Und, ehrlich hingerissen: Ich fand schön, was er gesagt hat. Ach, richtig schön. Donnerschläge krachten plötzlich aus unmittelbarer Nähe über Tho mas herein.
Eine Stimme rief: »Hallo? Ist jemand da drin?«
Dann erneutes Klopfen, laut, aufdringlich, gefährlich.
Er hat uns gefunden, gefunden, gefunden!!!
Vielleicht sind das unsere Retter? Vielleicht aber auch nicht. Hätten wir die Treppe genommen, wie ich gesagt habe, dann …
Komm, Tommy, hihi, rufe, so laut du nur kannst! Sag ihnen, dass wir hier auf
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