Rattentanz
irgendwie hatten ihn die Angst vor der Welt da draußen und der Wunsch, seinen Feinden aus Kindertagen zu beweisen, wozu er fähig sein könnte, in Wellendingen gehalten. Und so riss er nach dem Tod seiner Eltern den alten heruntergekommenen Hof ab und ersetzte ihn durch einen protzigen Neubau. Seitdem haben die Spötteleien aufgehört und so etwas wie Achtung meinte er in den Stimmen der anderen zu hören, wenn sie mit ihm über das Wetter oder die letzte Feuerwehrübung sprachen. So, wie er es sich jahrelang erträumte, hatte das Dorf den kleinen Verlierer in hastig abgenähten Mädchenkleidern vergessen. Ebenso den begriffsstutzigen Jungen, der er einmal war und der stets nach Kuhstall roch. Vergessen.
Aber er hatte nichts vergessen.
Frieder war jetzt geachtet. Die Menschen blieben vor seinem Haus stehen und mehr und mehr wurde er bei neuen Bauvorhaben im Ort und der Umgebung zu Rate gezogen oder auch gleich mit dem Projekt beauftragt. Frieder Faust war jetzt ein angesehener Mann.
Hände und Gesichter der Männer waren schwarz und glänzten von Ruß und Schweiß. Sie hatten jetzt über drei Stunden nach Überlebenden gesucht, aber bis auf eine grässlich verstümmelte Frau, in der bereits kaum noch Leben war, als Bubi sie fand und um Hilfe rief, nichts gefunden. Es war ein Wunder, dass die Frau überhaupt noch atmete.
»Meinst du, wir hätten ihr helfen können, wenn Bubi sie ein, zwei Stunden früher entdeckt hätte?« Mettmüller, dem der steile Sinkflug des Airbusses am Morgen als Erstem aufgefallen war, blinzelte in die Sonne. Er wirkte müde und die kurzen, roten Haare des Dreißigjährigen klebten nassgeschwitzt am Kopf.
Faust hob unwissend die Hände. »Keine Ahnung. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Jetzt ist es eh zu spät. Und wer hätte ihr helfen sollen?« Gewohnheitsmäßig kramte er den Flachmann hervor und setzte an. Aber die Flasche war leer.
»Habt ihr eine Idee, was hier eigentlich los ist?« Mettmüller sah zu Faust und zu Nussberger, der an seiner Zigarre zog. »Sollten wir nicht jemanden nach Bonndorf schicken? Vielleicht wissen die im Rathaus etwas oder haben wenigstens noch ein funktionierendes Telefon?«
Faust schüttelte den Kopf und zeigte auf eine kleine Menschengruppe, die in zwanzig Metern Entfernung miteinander diskutierte.
»Da ist einer vom Rathaus dabei. Der dort«, er streckte den Arm aus, »der gerade so wild mit den Armen rumfuchtelt. Hab vorhin mit ihm gesprochen. Alles wie bei uns.«
»Und was jetzt?«
»Das ist die Frage: was jetzt? Wenn das einer weiß, ist ihm wahrscheinlich ein Nobelpreis sicher! Oder zwei.«
»Genau«, meldete sich Nussberger, aber nur, um sofort wieder in rauchendes Schweigen zu verfallen.
»Vielleicht, wenn wir wüssten, wie es anderswo aussieht, ob nur wir hier betroffen sind oder das ganze Land oder Europa …«
»… oder die ganze Welt …« Faust zog die Augenbrauen in die Höhe. »Daran möchte ich lieber nicht denken! Stellt euch vor, das Ganze hier ist keine lokale Geschichte, sondern geschieht weltweit, malt euch mal aus, was dann auf uns wartet!« Er schüttelte den Kopf und erhob sich.
»Was sollen wir dann deiner Meinung nach jetzt tun?« Mettmüller sah zu Faust auf. War das die entscheidende Frage? Faust wusste es nicht, wusste keine Antwort. Keiner wusste eine Antwort, egal auf welche Frage. Abwarten? Auf Hilfe hoffen? Die Ursache finden? Und dann?
»Ich denke, ob wir nun vom Schlimmsten ausgehen oder ob wir das Beste herbeiwünschen ist egal. Wichtig wäre, dass wir uns zusammensetzen, wir hier im Dorf. Außerdem könnte ich was zu trinken vertragen, ich bin völlig ausgetrocknet. Treffen wir uns in der Krone.«
Nussberger nickte, denn in der Krone, dem alten Gasthaus in der Ortsmitte, würde er eine Schachtel Zigarren bekommen.
»Meint ihr nicht, dass es dafür noch ein bisschen zu früh ist?« Bar do Schwab war, von den dreien unbemerkt, dazu gekommen.
»Bardo? Was machst du hier? Solltest du nicht an deiner Werkbank stehen?«
Bardo nickte.
»Hab es ja versucht, aber in Koblenz sieht es genau so aus wie hier.«
Er betrachtet das Trümmerfeld und schüttelte den Kopf.
Bardo, Enddreißiger und eigentlich Tischler, hatte vor Jahren den kleinen Betrieb, den ihm sein Vater hinterlassen hatte, gründlich ruiniert. Die Tischlerei wird dich immer ernähren, hatte ihm sein Vater oft genug gepredigt und damit nicht recht behalten. Zwar konnte Bardo arbeiten wie kaum ein Zweiter, sobald aber Papiere, Rechnungen und
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