Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
Vom Netzwerk:
Termine mit ins Spiel kamen, setzte es bei ihm aus. Und so fand der Gerichtsvollzieher, als er eines Tages den Betrieb pfändete, neben einer wunderschönen Eckbank, an der Bardo gerade arbeitete, auch einen Abstellraum, in dem sich Rechnungen und Mahnungen in buntem Durcheinander mit Werbeprospekten und alten Tageszeitungen türmten. Seitdem hatte er einen Job in der Schweiz, in Koblenz, wo er in einer Industrietischlerei im Akkord bestimmte Einzelteile eines unbekannten Großen anfertigte. Er verdiente gut dabei und sein Schuldenberg wurde jeden Monat ein wenig kleiner.
    »Punkt sieben standen plötzlich alle Maschinen still und die Lichter gingen aus. Als dann noch ein Flugzeug Richtung Zürich herunterkam, habe ich gemacht, dass ich wegkomme!«
    »Also ist es überall das Gleiche.«
    Bardo nickte. »Ich hatte Mühe, überhaupt noch zurückzukommen. Das mit den Flugzeugen scheint die Leute völlig aus der Bahn geworfen zu haben.«
    »Na«, unterbrach ihn Faust, »unser Stromausfall, die toten Telefone und, nicht zu vergessen, die trockenen Wasserhähne, sind ja auch nicht schlecht, oder?« Faust versuchte zu lächeln, aber es wurde eher ein hilfloses Grinsen. Trotzdem verstanden die anderen.
    »Wie sieht es auf den Straßen aus?«, wollte Mettmüller wissen. »Anne«, er zeigte zu einer Frau in der Gruppe der Diskutierenden hinüber, »ist vorhin aus Donaueschingen gekommen und meinte, dort herrsche das totale Chaos und es gäbe kaum noch ein Durchkommen.«
    Bardo wusste, was Anne meinte. Er selbst war nur mit Mühe zurück über den Rhein gelangt. Die Fahrt durch Waldshut glich dann einer Odyssee, bei der er versuchte, jede bekannte Ampelkreuzung zu umschiffen und selbst für die Fahrt übers Land zurück nach Wellendingen, die nie mehr als fünfunddreißig Minuten dauerte, hatte er heute über zwei Stunden benötigt. Und das auch nur, weil er Schleichwege benutzte, die den meisten anderen unbekannt waren.
    »Und wieso meinst du ist es zu früh, sich unten in der Krone zusammenzusetzen?«, wollte Frieder wissen.
    Bardo zuckte nur mit den Achseln.
    »Keine Ahnung, nur so ein Gefühl. Kann mir nicht vorstellen, dass da groß was bei rauskommt. Sind doch alle total daneben.« Frieder nickte. Total daneben – das traf es auf den Kopf, genau so fühlte er sich. Total daneben. Trotzdem hatte er Durst.
    »Dennoch«, er stand auf, »versuchen kann man’s ja mal.«
    »Genau.« Auch Eugen Nussberger erhob sich und räusperte sich geräuschvoll.
    Schnell fanden sich vier Freiwillige, die mit ihren Autos durchs Dorf fuhren, hupten und die wenigen Daheimgebliebenen vom Treffpunkt unterrichteten. Punkt zwei im Gasthaus Krone. Eine Handvoll Unentwegter wollte die Hoffnung noch nicht aufgeben und im Trümmerfeld zwischen Hardt und Lindenbuck weiter nach eventuellen Überlebenden suchen, darunter Bubi. Die Bonndorfer brachen auf, um ein ähnliches Treffen in ihrer Stadt zu organisieren.
    Faust, Nussberger und Mettmüller trafen als Erste in der dunklen und kühlen Gaststube ein. Der Wirt, Berthold Winterhalder, hatte die breite Ziehharmonikatür zum Nebensaal geöffnet und eilig die Stühle von den Tischen genommen.
    »Glaubt ihr, es kommt überhaupt jemand?«
    Seine Frage beantwortete sich schnell von selbst. Als hätten sie nur auf einen Ruf gewartet, strömten die Menschen aus ihren Häusern. Vor allem Frauen, die mit ihren Kindern zu Hause geblieben waren und Ältere, denen die Suche am Hardt zu anstrengend schien, sodass sie diese lieber den Jüngeren überlassen hatten, gierten nach Gesprächen und Informationen. Kurz nach zwei waren beide Stuben der Wirtschaft zum Brechen gefüllt. Frieder hatte es sich am Tresen bequem gemacht, vor sich bereits die zweite Flasche Bier.
    Wellendingen besaß, seit es vor Jahren Teil der Gemeinde Bonndorf geworden war, weder einen eigenen Bürgermeister noch einen Ortsvorsteher, sodass jetzt keiner anwesend war, dem es von Natur aus zufiel, das erste Wort zu ergreifen. Schließlich erhob sich Pfarrer Kühne und im Saal wurde es still.
    »Wir wissen nicht«, begann er, »was die Ursache all dessen ist, was in den letzten Stunden geschah.« Jakob Kühne, mit seinen zweiundvierzig Lenzen der jüngste Pfarrer, den die kleine Gemeinde bis dato hatte, wirkte gefasst und ungewöhnlich ernst. Wäre man auf der Su che nach dem Sinnbild des süddeutschen Dorfgeistlichen − hier hätte man ihn gefunden. Gemütlich und durch kaum etwas aus der Ruhe zu bringen, mit einem erheblichen Bauchansatz,

Weitere Kostenlose Bücher