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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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gesund strahlenden ro ten Wangen und einer Nase, deren Röte und Größe davon erzählte, dass Pfarrer Jakob Kühne durchaus auch seine Erfahrungen im Bereich der weltlichen Genüsse hatte, stand er vor seinen Zuhörern und suchte die passenden Worte. »Aber um ehrlich zu sein«, er zögerte und kratzte sich am Hinterkopf, »um ehrlich zu sein, weiß ich weder was geschehen ist noch wie es weitergehen soll.« Unter seinen Zuhörern wurde es unruhig. »Aber vielleicht kann ein Gebet uns weiterhelfen. Ich weiß«, er hob beide Hände, um dem Murren, vor allem der Jüngeren, Einhalt zu gebieten, »ich weiß, dass ihr im Moment anderes im Kopf habt, aber haben wir heute nicht genug Schlimmes erlebt und genug Tod gesehen? Kann einer von euch einen klaren Gedanken fassen? Kommt, lasst uns zusammen beten, ich werde es auch kurz machen!« Damit faltete er die Hände vor seinem Bauch und senkte den Kopf.
    »Herr, gib uns die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die wir nicht ändern können und gib uns den Mut und die Kraft, Dinge zu verändern, die wir ändern können. Und wir bitten dich, gib uns die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Amen.«
    Kühne ließ einen Blick über die Köpfe der vielen Männer, Frauen und Kinder schweifen und sah, dass Bonhoeffers Gebet sie tief getrof fen hatte. Es hatte ihnen innerhalb weniger Sekunden klargemacht, dass augenblicklich nicht unbedingt das »Warum« im Vordergrund stand, sondern eher das »Wohin«. Schweigend suchten fast dreihundert Augenpaare den Pfarrer und warteten. Der schien aber offensichtlich der Meinung, mit einem stärkenden Gebet sei vorerst sein aktiver Teil an der Veranstaltung beendet und setzte sich. In mehreren Ecken begann man zu tuscheln.
    »Wer von euch hatte die Idee mit diesem Treffen?« Pfarrer Kühne erhob sich noch einmal und musterte die Dorfbewohner. Offensichtlich war er der Meinung, dass der Initiator dieses Treffens als nächster sprechen sollte
    »Frieder? War doch von dir, oder?«, fragt einer aus der Runde und erntete zustimmendes Gemurmel.
    »Faust?« Uwe Sigg erhob sich und brüllte durch den Saal. »He Faust, komm, sag schon, warum hast du uns zusammengetrommelt? Oder mussten wir alle kommen, um dir beim Biertrinken zuzusehen?« Sigg war mit dem Gelächter, das seine Bemerkung hervorrief, sichtlich zufrieden und setzte sich. Er strahlte und ignorierte den bö sen Blick, den Faust ihm vom Tresen her zuwarf.
    Mettmüller beugte sich zu Faust hinüber und flüsterte: »Komm schon, du musst jetzt irgendwas sagen, die warten alle drauf. Schließlich war das hier alles wirklich deine Idee!« Faust nickte nach kurzem Zögern und stellte die Flasche ab.
    »Stimmt, es war meine Idee«, begann er und im Saal wurde es augenblicklich still. »Ich dachte …«
    »Lauter!«, brüllte es aus dem Nebenraum und »Steh doch auf, Frieder!«, also erhob er sich.
    »Ich dachte, ihr wisst alle wie ich aussehe«, versuchte er es noch einmal und hatte die Lacher auf seiner Seite. »Aber Spaß beiseite: es gab keinen bestimmten Grund, wenn ihr das erwartet, kein Allheilmittel, das euch jetzt verkündet wird. Ich bin genau so schlau oder dumm wie ihr alle.« Faust wartete auf einen weiteren Lacher, aber es blieb erstaunlich still. Seltsam, so vor den versammelten Dorfbewohnern zu stehen, schoss es ihm durch den Kopf. Wie groß war doch der Unterschied zu seiner Kindheit, als er, in den abgetragenen Sachen sei ner Schwester und immer nach Stall riechend, der Prügelknabe des Dorfes war. Jetzt stand er vor ihnen und alle, wirklich alle hingen an seinen Lippen. Seit er die Schulzeit − und damit seine stotternden Gedichtrezitationen − hinter sich gelassen hatte, war er jeder Menschen - ansammlung, bei der er eventuell etwas hätte sagen müssen, konsequent aus dem Weg gegangen. Aber jetzt fühlte er sich ruhig und erstaunlich sicher.
    »Weißt du, wann der Strom wieder angestellt wird?« Die Frage kam von Hildegund Teufel. Mit ihren siebenundachtzig Jahren lief sie immer noch täglich durch das halbe Dorf und holte ihr Kännchen Milch direkt vom Bauern. Und mit den zwei Gehstöcken, von denen keiner genau wusste, ob sie diese wirklich brauchte, war sie allen Hunden im Dorf ein permanenter Dorn im Auge und für alle Kinder das Sinnbild einer Hexe schlechthin.
    »Das wüssten wir alle gern!«, antwortete statt Frieder Martin Kiefer, Eva Segers erster Mann. Er erhob sich. Als einziger Bonndorfer war er heute in Wellendingen geblieben und keiner wusste genau wa rum.

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