Rattentanz
Schließlich gab es hier nichts, was ihn halten konnte. Jetzt räusperte er sich und kletterte auf einen Stuhl. »Viel wichtiger finde ich die Frage, wer hier, bis alles wieder geregelt läuft, das Sagen hat! Schließlich«, er musste die Stimme erheben, um die Zwischenrufe zu übertönen, »schließlich muss jemand Entscheidungen treffen und planen, was als Nächstes zu tun ist und was nicht.«
»Und warum sollten wir das nicht gemeinsam können?«
»Genau! Und wir brauchen bestimmt keinen Bonndorfer, der hierherkommt und uns erzählt, was wir als Nächstes zu erledigen haben!«
»Wärst du wohl gern, unser Bürgermeister oder so?«
»Ruhe!« Frieder Faust war auf den Tresen geklettert. »Ruhe! Jetzt seid bitte einen Moment ruhig!« Langsam wurde es still im Saal. »Es bringt nun wirklich nichts, wenn wir hier übereinander herfallen und uns zerfleischen!« Zustimmendes Gemurmel. »Sicher, das was Martin eben gesagt hat, ist bestimmt nicht unser dringlichstes Problem, aber sollte sich die Lage in zwei oder drei Tagen nicht wieder normalisiert haben, steht dieser Punkt schon auch auf der Tagesordnung.« Er sprang von seinem Podium und nahm einen Schluck, wobei ihm Susannes missbilligender Blick nicht entging. Seine Frau und die kleine Lea Seger standen Hand in Hand nahe beim Ausgang und ließen ihn nicht aus den Augen.
Lydia Albicker unterbrach ihn. »Aber mal was anderes.« Sie erhob sich und klopfte dabei etwas Stroh aus ihrem Kittel. Sie und ihr Mann waren die Letzten im Ort, die noch eine Vollerwerbslandwirtschaft be trieben. Es war Lydia anzumerken, dass sie ihren Mann nur ungern mit den Tieren allein gelassen hatte und alle wussten, dass der seit einem kleinen Schlaganfall im vergangenen Jahr im Stall keine große Hilfe mehr war. Als ob sein linkes Bein keine Lust mehr hätte, seinem Besitzer in angemessenem Tempo zu folgen, hing es wie ein Bremsklotz an Andreas Albicker und brachte ihn regelmäßig zu Fall.
»Ich könnte Hilfe im Stall gebrauchen, wenn wir nicht bald wieder Strom haben.« Wie unangenehm es ihr war, hier das Wort zu ergreifen, sah man der Frau deutlich an. Ihre sonst schon roten Wangen glühten und sie sah zu Boden, als sie weitersprach: »Die Melkanlage geht nicht mehr und Andreas und ich, wir schaffen es nicht, vierzig Kühe von Hand zu melken.«
»Weiß hier noch jemand, wie man Kühe melkt?«, fragte Frieder in die Runde. Wenige, vor allem Ältere, hoben die Hand.
»Und abgeholt hat heute auch keiner unsere Milch. Also wenn ihr was braucht, könnt ihr ja kommen. Müsst nur einen Eimer oder Flaschen oder so mitbringen.« Schnell setzte sie sich wieder.
»Stimmt es, dass in Donaueschingen geplündert wird?«
»Wie sieht es in der Schweiz aus? Haben die noch Strom?« Frieder bat Anne Gehringer und Bardo Schwab, zu berichten. Während Anne von einer ausgeraubten Bank und anderen Plünderungen erzählte, musterte Faust all die vielen Gesichter, von denen er die allermeisten seit seiner Kindheit kannte und in denen jetzt Angst und Sorge standen. Er sah Susanne, Lea hing an ihrer Hand. War Eva noch immer nicht aus Donaueschingen zurück?
Was Anne und Bardo berichteten, war nicht dazu angetan, die Menschen zu beruhigen oder Hoffnung zu verbreiten. Woanders, so die Quintessenz, sah es bedeutend schlimmer aus. Aber warum sollte es nicht auch hier schlimmer werden?
»Aber ich habe heute Nachmittag einen Arzttermin in Waldshut.« Georg Sattler, zweiundsiebzig, war seit seiner Jugend Diabetiker und musste sich vor jeder Mahlzeit spritzen. »Mein Insulin ist fast alle.«
»Vielleicht bekommst du in Bonndorf was«, schlug Mettmüller vor.
»Ich will nachher sowieso rüberfahren, wenn du willst, kannst du mitkommen.«
Sattler nickte.
»Mein Mann ist noch in Freiburg. Weiß jemand, wie die Lage in Freiburg ist und ob die B31 frei ist?«
Lea hörte nur mit halbem Ohr zu. Kuhstall, Insulin, Freiburg … sie verstand nicht, worüber die Erwachsenen sprachen. Sie wollte nur wissen, wann ihre Mutter endlich wieder bei ihr wäre. Aber keiner konnte dem Kind darauf antworten.
Wo mochte sie jetzt sein? Ging es ihr gut?
Lea zog an Susannes Hand. »Ich hab Hunger!«
»Gleich, Liebes. Wenn wir hier fertig sind, gehen wir heim und ich koche uns etwas. Versprochen!«
Kochen? Womit? Aber das behielt Susanne für sich.
14:32 Uhr, Wellendingen, Trümmerfeld Hardt
Eckard Assauer, Professor für mittelalterliche Geschichte und Freizeitarchäologe, saß, mit dem Rücken an einen Felsblock gelehnt,
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