Rattentanz
beugte sich über das Kind und küsste es. Vom langen Sitzen und vom Gewicht des Enkels, der auf seinen angezogenen Knien lag, schmerzten seine alten Gelenke. Die Beine kribbelten und waren kaum noch zu spüren.
»Die Sonne tut uns gut. Sie ist so warm und so rein als würde es uns gar nicht geben. Wenn du groß bist Kevin, und ich schon lang irgendwo dem Gras von unten beim Wachsen zusehe, kannst du zum Mond fliegen, so wie du es dir immer gewünscht hast. Oder vielleicht zum Mars, wer weiß das schon.«
Der Fotograf kam näher. Assauer wollte nicht, dass ihn jemand so ablichtete und beugte sich noch weiter über den Jungen. »Sei ganz still, sonst entdeckt er uns.« Er wollte nicht zusammen mit seinem Enkelsohn der Anblick sein, an dem sich Hunderttausende morgen früh zwischen Zähneputzen und einem Schluck Kaffee aufgeilten. Oder aus diesem Bild die Erträglichkeit ihres eigenen Seins ableiteten. Sieh doch, die armen Menschen! Gott sei Dank geht’s uns gut. Und schon ertragen sie wieder ihren ungeliebten Job, den vergessenen Partner, dieses einmalige Leben.
Assauer verschmolz beinahe mit dem Kind in seinen Armen. Der Fotograf kam immer näher. Der Professor beobachtete ihn aus dem Augenwinkel und weinte, weinte hemmungslos und voller Schmerz. »Oh, mein Kevin.« Er küsste das stille Gesicht, das friedlich und mit fest geschlossenen Augen an seiner Brust lag. Assauer kannte die schreckliche Wirklichkeit und wollte sie nicht wahrhaben. Aber der Fotograf würde sie jeden Augenblick entdecken, es war an der Zeit, Abschied zu nehmen.
14:52 Uhr, Wellendingen, Gasthaus Krone
Bubi stieß die Beifahrertür des alten Passats auf, sprang aus dem Wagen und rannte in die Wirtschaft.
»Aber die Leichen müssen bestattet werden!«, forderte Christoph Eisele soeben zum wiederholten Mal. »Oder wollt ihr, dass im Hardt was weiß ich wie viele Leichen in den nächsten Wochen …«
»In den nächsten Wochen?! Bis spätestens morgen sind Rettungskräfte oder Militär oder auch beides hier!« Der Zwischenrufer schüttelte den Kopf. »Nächsten Wochen!«
»Sollen wir warten«, fuhr Eisele unbeirrt fort, »bis die Toten langsam vor sich hin faulen? Könnt ihr euch den Gestank vorstellen? Und was ist mit den Krankheiten? Die Krähen, die an den Leichen picken …« Einer Frau wurde übel. Sie stürzte aus dem Saal und wäre fast mit Bubi zusammengestoßen. »Die Krähen kommen auch zu uns herunter, sind ja nur ein paar Meter.« Er schüttelte den Kopf und sagte bestimmt: »Wir brauchen eine Lösung, egal, ob heute Abend die Lichter wieder angehen oder nicht!«
»Und wo sollen wir sie begraben?«
»Am besten gleich an Ort und Stelle. Wir heben eine Grube aus und Schluss.«
»Na, da wird sich der alte Frey aber freuen.« Friedbert Frey, Großbauer aus dem drei Kilometer entfernten Brunnadern, gehörte der größte Teil der Wiesen und Felder, auf denen der Airbus abgestürzt war.
»Kann er auch!«, tönte es aus dem Saal. »Schließlich sind es seine Felder, die wir aufräumen.«
»Aber was machen wir, wenn er sagt, dass wir dort niemanden beerdigen dürfen?«
»Darüber können wir uns Gedanken machen, wenn es so weit ist!«, entschied Frieder Faust. »Zuerst mal steht unsere Sicherheit im Vordergrund und unsere Gesundheit.«
»Wir sollten warten«, kam es zaghaft aus einer Ecke. »Wir können doch nicht ohne Genehmigung …«
»Und wenn es dem Frey nicht gefällt, kann er sie ja irgendwann umbetten. Wenn er mag, meinetwegen auch auf unseren Friedhof.«
»Bloß nicht, der wär’ ja ruckzuck voll!«
Frieder Faust nickte und tat so, als ob er seinen Sohn, der an der Tür stand und ihm aufgeregt zuwinkte, nicht sähe. »Gibt es Freiwillige für den Beerdigungstrupp?« Es wurde plötzlich still im Saal und jeder der An wesenden versuchte sich so klein wie möglich zu machen. Selbst Chris toph Eisele, der eben noch enthusiastisch auf die Seuchen gefahr hingewiesen hatte, versuchte in der Anonymität zu versinken und schwieg.
»Christoph?« Faust sah sich im Saal um.
»Hier«, antwortete Hildegund Teufel und zeigte mit ihrem Stock auf Christoph Eisele, wofür sie von ihm einen nicht gerade freundlichen Blick erntete.
»Wenn keiner hier was dagegen hat, solltest du das Beerdigungsteam organisieren.« Aus dem Saal kam beifälliges Murmeln. »Und da es sich um keinen Job handelt, für den es viele Freiwillige gibt, wird jeder Mann aus dem Dorf einmal dabei sein müssen. Du musst nur zusehen, dass du alles einigermaßen
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