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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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inmitten blühender Orchideen. In seinen Armen hielt er ein vertrauensvoll lächelndes Kind. Seinen Enkelsohn.
    Assauer summte ein Schlaflied und bewegte sich vor und zurück, ganz vorsichtig, ganz leise. Er wollte Kevin nicht wecken, denn das hier, er warf einen flüchtigen Blick auf die Reste des Flugzeuges, in das sie vor Kurzem noch voller Vertrauen in diese Zivilisation eingestiegen waren, das hier war nichts für die Augen eines Kindes. Nein, Kinder sollten schöne Dinge sehen, vielleicht diese Orchideen, aber nicht all das Leid, das sich wie ein Albtraum ringsum ausbreitete. Er wusste nicht, wie es dazu gekommen war, aber irgendwann, während die Maschine über den Boden schlitterte, waren sie mitsamt ihrem Sessel aus dem Airbus geflogen. Er hatte Kevin auf seinem Schoß gehalten und ihn an sich gedrückt, ihn beschützt.
    Da hinten, auf der anderen Seite der Wiese, kletterte ein Mann zwischen den Trümmern umher. Ein Arzt? Wohl eher ein Reporter, schien es Assauer, denn der Mann fotografierte ununterbrochen. In den Abend nachrichten würden die Absturzbilder um die Welt gehen, morgen früh groß und in Farbe auf jedem Frühstückstisch liegen.
    Er strich dem Kind eine Locke aus der Stirn und küsste es auf die Stirn. »Schlafe, mein Prinzchen, schlafe. Psst.« Hin und her, ganz vorsichtig, hin und her.
    Die warme Maisonne stand hoch. Sie schien dem alten Professor auf die mageren Schultern und das schlohweiße Haar. Hände und Unterarme schmerzten, aber sonst war er offensichtlich in Ordnung. Kurz nach dem Absturz hatten sich seine Hände warm und feucht angefühlt, aber das war vergangen. Jetzt spannten seine Hände, als ob er eine zweite, zu enge Haut wie einen Handschuh übergestreift hätte. Aber er wagte es nicht, seine Hände zu betrachten, dazu hätte er Kevin loslassen müssen und um nichts in der Welt wollte er dies. Und sie waren ihm egal, diese alten Hände. In einiger Entfernung, an einem Abhang vielleicht, ragte der Airbus, oder besser das, was von ihm übrig geblieben war, steil in die Luft. Aber genau war das aus dieser Entfernung für seine alten Augen nicht auszumachen. Er musste lächeln, denn der nackte, ausgebrannte Rumpf erhob sich aus dem Gras wie ein überdimensioniertes Phallussymbol. Wenn Sybilla das sehen könnte.
    Dem Siebzigjährigen war bewusst, dass seine Tochter den Absturz kaum überlebt haben konnte. Kurz nachdem die Tragfläche abgerissen und einen großen Teil der Außenwand genau an der Stelle, an der ihr Sessel stand, mit sich genommen hatte, war sie verschwunden. Und nichts deutete darauf hin, dass Überlebende gefunden wurden. Die vie len Menschen, woher immer sie auch kamen, waren, nachdem sie zwei Stunden zwischen den Trümmern herumgestochert hatten, wieder verschwunden. Nur vier oder fünf irrten noch zwischen den Wrackteilen und Leichen und Gepäckstücken umher, verloren, wie orientierungslose Ameisen über unbekanntem Waldboden. Nur der Fotograf schien so etwas wie ein Ziel zu besitzen.
    »Schlaf, Kevin. Schlaf, mein Kleiner. Auch wenn Mama weg ist − ich beschütze dich.« Vor und zurück, ganz leise. »Weißt du noch, wie wir letzten Sommer dein Fahrrad repariert haben?« Assauer drückte den Zehnjährigen an seine Brust. »Du warst so wild und hattest nichts anderes als Downhillbikes und Jumpen und irgendwelche Parcours aus schmalen Brettern im Kopf. Und wenn Mama dir erklärte, dass dein Fahrrad kein Downhillbike und auch kein Mountainbike ist und dass es kein Wunder sei, dass dein Fahrrad fast jeden Tag irgendwelche Blessuren habe, hast du brav zugehört und dabei richtig verständ nisvoll ausgesehen.« Assauer lächelte und eine Träne verfing sich in seinem Bart. »Aber Opa war ja da, nicht wahr? Opa kann das reparieren!, hast du immer gesagt und bist mit deinem quietschenden Drahtesel zu mir gekommen. Oh, wie hat Mama geschimpft, als wir von deinem neuen Fahrrad beide Schutzbleche und den Gepäckträger abmontiert haben! Uncool, war dein Ausdruck, stimmts? Gepäckträger sind uncool und was für Mädchen! Recht hattest du, an meinem Fahrrad besaß ich als Kind auch nie einen Gepäckträger.«
    Ein Taubenschwänzchen umkreiste die Pieta aus Großvater und En kel. Hektisch tanzte das Insekt hin und her, um schließlich einen langen Rüssel in reife Blüten zu stecken und dabei wie ein Kolibri in der Luft stehen zu bleiben.
    »Sieh Kevin, ein Taubenschwänzchen!«
    Aber Kevin blieb still.
    »Pst. Schlaf. Entschuldige. Schlaf nur, ich bin bei dir.«
    Assauer

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