Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
Vom Netzwerk:
Stationsfluren bot sich Beck kein besseres Bild; überall Menschen, die eilig mit Familienangehörigen oder Freunden das Krankenhaus verließen oder in die andere Richtung unterwegs waren, um jemanden abzuholen. Dazwischen überfordertes Personal, das von Stunde zu Stunde auf seltsame Weise weniger zu werden schien. Die Flure waren nur spärlich beleuchtet und fast alle Türen zu den Patien tenzimmern standen weit offen.
    Die Klinik bestand aus drei Flügeln und da, wo diese zusammentrafen, lagen Treppenhaus, Aufzüge und in jeder Etage ein geräumiger Wartebereich. Joachim Beck befand sich, der Anweisung der Ambulanzschwester folgend, in der zweiten Etage, wo neben den Operationssälen und der Intensivstation die chirurgischen Stationen lagen. Im Wartebereich blieb er stehen. Um ihn herum pulsierten Angst, Hektik und Unsicherheit und Menschen hasteten durch die Gänge. Es waren nur wenige Schwestern und Pfleger, aber keine Ärzte zu sehen.
    In den Sesseln im Wartebereich saßen Patienten, zum Teil im Bademantel und mit Infusionsständer neben sich, andere bereits fertig angezogen und mit gepacktem Koffer. Sie warteten auf jemanden, der sie abholte. Hoffnungsvoll empfingen ihre Augen jeden, der die Etage betrat.
    Im Wartebereich saß eine alte Frau mit rundem Gesicht. Unter einem roten Wollkopftuch guckte schlohweißes Haar hervor. Im Gegensatz zu allen anderen, die das Treppenhaus im Auge behielten, saß sie so, dass sie genau sehen konnte, was auf dem Flur zur Intensivstation passierte. Ihre Finger strickten wie automatisiert an einem Socken. Sie wirkte fehl am Platz, da sie als Einzige so etwas wie Ruhe und Gelassenheit ausstrahlte.
    Wegen seines ungünstigen Ausblicks war der Platz neben der Alten noch frei. Beck setzte sich.
    Erstmals an diesem albtraumhaften Tag kam er etwas zur Ruhe. Er sah sich um. Links von ihm saß die alte Frau, dann kamen das Treppenhaus und die Aufzüge. Die standen still und vor einem der Las ten aufzüge hing ein weißes Bettlaken mit Bügelfalten. Darüber ein Schild mit der Aufschrift »Außer Betrieb!« Wer käme denn heute schon auf die Idee, einen Aufzug zu benutzen?, überlegte Beck. Rechts von ihm, umgeben von Palmen und tief hängenden Strahlern, die in der lichtlosen Halle Sonnenlicht imitieren sollten, standen acht doppelsitzige Bänke – hellblau und mit abwaschbarem Stoff bezogen. Beck schloss die Augen. Das monotone Klappern, das von den Stricknadeln der alten Frau kam, beruhigte ihn etwas. Sein Kopf dröhn te wie ein leerer Kochtopf, der über den Steinboden in der Küche rollt. Ob die Nase wohl wieder gerade würde? Er betastete den geschwollenen Klumpen mitten in seinem Gesicht und das blutunterlaufene Auge. Selbst mit Hilfe der Finger war es nicht möglich, die Lider so weit auseinander zu drücken, dass er hätte sehen können. Salms Krawatte hatte sich dunkel verfärbt, aber die Wunden bluteten nicht weiter.
    Als er vor fünf Jahren aus der Nähe von Stuttgart nach Donaueschingen kam, war Joachim Beck dreiundzwanzig. Er war allein und, wie ihm beim Anblick all der Menschen um ihn herum bewusst wur de, auch bis heute allein geblieben. Es gab hier niemanden, um den er sich Sorgen machte, keinen, der sich um ihn sorgte. Eigentlich schade. Und erleichternd! Er wohnte am anderen Ende der Stadt, in einer kleinen Dreizimmerwohnung unterm Dach. Außer einer günstigen Miete hatte die Wohnung den Vorteil, dass er von seiner erhöhten Position aus am Abend einer Frau im Nachbarhaus beim Ausziehen zusehen konnte. Wenn sie ihn ließ! Denn manchmal, so kam es ihm vor, flanierte sie zuerst absichtlich vor dem Fenster ihres hell erleuchteten Schlafzimmers, um dann, wenn sie gerade dabei war die Knöpfe ihrer Bluse zu öffnen, mit sadistischer Freude die Vorhänge langsam zuzuziehen. Sie erinnerte ihn an Manuela, seine Schwester.
    Wieso war heute alles so völlig danebengelaufen? Beck dachte an Wegmann, di Sario und Meinhoff. Waren sie tot? So wie Storm? Und was war aus den anderen geworden? Interessierte es jemanden? Beck schüttelte (in Gedanken) den Kopf. Nein. Im Moment beschränkten sich die Interessen der Menschen nur noch auf das, was ihnen wirklich wichtig war. Und das waren in der Regel die Partner, Kinder und Eltern und man selbst. Wer würde da nach ein paar Polizisten fragen?
    Vom Treppenhaus drang Lärm herüber. Männerstimmen.
    »Du solltest zu einem Doktor gehen, Jungchen.« Die hohe, aber trotzdem angenehme Stimme der Alten tanzte im Singsang der Russlanddeutschen.

Weitere Kostenlose Bücher