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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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Stamm einer hundertjährigen Tanne. Als er den steilen Hang hinunterstürzte und mit dem Hinterkopf gegen einen Felsvorsprung schlug, verstummten seine Schmerzensschreie schlagartig. Er verlor das Bewusstsein und schlitterte ohne Reflexe und Widerstand die verbleibenden vierzig Meter bis zum Grund der Schlucht. Auf diesen vierzig Metern schlug er sich sieben Zähne aus und brach sich Nase, Jochbein und beide Arme. Mit dem Gesicht nach oben blieb er bewusstlos am Ufer der Wutach liegen und es dauerte nicht lange, bis erste Fliegen an seinen frischen Wunden kosteten.
    Frederick Fehrenbach ließ sein Mountainbike am Straßenrand liegen und rutschte seinem Sohn hinterher. Beim Versuch, das Kind zurück zur Straße zu tragen, erlitt er besagten Herzinfarkt. Der plötzliche und völlig unerwartete Schmerz ließ ihn wie ein Taschenmesser zusammenklappen. Er tastete nach seinem Handy und wählte den Not ruf. Die Grabesstille, die ihm aus dem Apparat entgegenschlug, seine Schmerzen und der Anblick des Sohnes, der langsam Zentimeter um Zentimeter den Hang, den ihn sein Vater hinaufgeschleppt hatte, zurückglitt, machten ihn rasend. Hilflosigkeit, wie er sie, der die Sicherheit der Moderne und deren Techniken gewohnt war, niemals für möglich gehalten hätte, kletterte von den Fußsohlen kommend empor und paarte sich mit nackter Angst.
    Er starb mit dem Telefon in der Hand neben seinem Sohn. Louis folgte ihm knapp drei Stunden später, ohne noch einmal das Bewusst sein erlangt zu haben.

19
    18:17 Uhr, Wellendingen, Kuhstall Familie Albicker
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    Sollten Kühe eine Seele besitzen, so waren sie jetzt dabei, sich diese aus dem Leib zu schreien. Nachdem der Stromausfall das morgendliche Melken unterbrochen hatte und inzwischen bereits die Zeit für das Abendmelken näher rückte, waren die Euter der etwa vierzig Tiere prall mit Milch gefüllt. Ihr Brüllen war nicht mehr das knarrend tiefe Muh, das sie von sich gaben, wenn sie zufrieden und satt wiederkäuend im Stroh lagen. Sie schrien, weil sie Schmerzen hatten, unerträgliche Schmerzen, niemals zuvor erlebte Schmerzen! Mit gespreizten Hinterbeinen standen sie in dem offenen Stall, in dem sie sich vierhundert Quadratmeter mit dreißig Kälbern und einer stets wechselnden Katzenpopulation teilten.
    Wenn er äußerlich auch nicht den Anschein erweckte, so war Albickers Hof doch ein moderner Hochleistungsbetrieb, in dem die Tiere, sobald sie ihr erstes Kalb geworfen hatten, den Regeln einer effizienten Milchproduktion unterlagen und Tageslicht nur noch durch die kleinen Stallfenster sahen. Es war billiger, das Grünfutter zu mähen und den Tieren mit einem Ladewagen in den Stall zu werfen, als sie am Morgen auf die Weide zu treiben und am Spätnachmittag wieder zu holen.
    Sie standen eng gedrängt am Eingang zur Melkstraße und brüllten, brüllten, dass die Schwalben, im Anflug auf ihre Nester, die an den Balken der Stalldecke klebten, erschraken, abdrehten und irritiert über dem Stall kreisten. Das ab einer bestimmten Größe der Landwirtschaft durchaus übliche Notstromaggregat hatte Andreas Albicker immer mit Vehemenz abgelehnt. Zu teuer. Wann fällt der Strom denn schon mal länger als zwei, höchstens drei Stunden aus?
    Heute, am 23. Mai zum Beispiel.
    Albicker saß auf einem kleinen Schemel und versuchte, ein widerstrebendes Tier von Hand zu melken. Sie hatten Mühlviertler-Rinder, große und kräftige Tiere, robust, braun-weiß, wobei die massigen Köp fe fast immer weiß waren. Auch Lydia Albicker saß neben einem angebundenen Tier. Der Eimer unter dem Euter war zur Hälfte gefüllt, aber noch immer schrie das Tier und trat nach der Bäuerin, denn der Schmerz, den es ertragen musste, verbunden mit dem ungewohnten Melkvorgang von Hand, verwirrten das Tier und machten ihm Angst.
    Lydia war wütend. Wütend auf all die Technik, die nicht funktionierte, wütend auf die widerspenstigen Tiere, vor allem aber wütend auf ihren Mann. Denn er hatte das Aggregat abgelehnt und er war jetzt, nach seinem Schlaganfall im vergangenen Jahr, keine große Hilfe. Sie sah zu ihm hinüber. Da saß er auf seinem Schemel, eine Hand im Schoß, und versuchte mit der gesunden Rechten zu melken. Er sah wie ein gelangweilter Großstädter aus, der, nach dem Motto »Was-machen-wir-heute-Lustiges?«, aufs Land gefahren war um da den Dorftrotteln zu zeigen, wie cool melken sein kann. Und für den, der nichts von seiner geschwächten linken Körperhälfte wusste, sah er wirklich cool und lässig

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