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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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Kantine.
    Fuchs kannte das Krankenhaus recht gut. Bis zur Bewusstlosigkeit abgefüllt, war er bereits dreimal hier eingeliefert worden. Er schlief jeweils zwei Tage seinen Rausch aus und erkundete in einem Bademantel, den ihm die Schwestern freundlicherweise zur Verfügung stellten, Klinik und Park, bis man ihn wieder auf die Straße setzte. Eine Sozialarbeiterin mit knallengen Jeans und einem Dekolleté, bei dem ihm heute noch das Wasser im Mund zusammenlief, versuchte ihn zur Resozialisierung (es klang süß aus ihrem Mund) zu überre den. Er sagte nie nein, sondern vertröstete die Kleine immer auf den nächsten Tag, was ihn in die glückliche Lage versetzte, jeden Tag eine bescheidene Peepshow zu bekommen.
    Ein weiterer Besuch in der Klinik wurde unvermeidbar, als sein Blinddarm platzte und, laut Chefarzt, seine Därme schon im Eiter schwammen. Aber sie hatten ihn wieder hinbekommen und ihm sogar jeden Abend zwei Bier statt des sonst üblichen Kräutertees spendiert. Es war schon nicht übel, dieses Krankenhaus; er hatte es warm, konnte die Menschen beobachten und genoss es, den Unbeholfenen und Kran ken zu mimen und damit eine der Schwesternschülerinnen zur Hilfe zur animieren. Aber meistens kam stattdessen Schwester Brunhild, ein monströser Drachen von fast einsneunzig, mit Bartstoppeln am Kinn und tiefer Stimme, die Fuchs aus dem Bett hob.
    »Wird schon wieder!«, hatte sie immer gesagt und ihm dabei sanft, wie sie meinte, den Rücken getätschelt, was ihn umgehend quer durch das Patientenzimmer bis ans Waschbecken schubste.
    Der letzte Aufenthalt lag zwei Jahre zurück. Ein alter Tatterkreis, den seine Prostata und ein nerviger Köter nicht schlafen ließen, hatte Fuchs halb erfroren in einem Straßengraben gefunden. Fuchs konnte sich an diese Nacht kaum noch erinnern. Irgendwann nach Mitternacht − er würfelte mit zwei anderen Pennern, die sicher auf der Durchreise waren, in einer Bushaltestelle um den nächsten Schluck − war sein Film gerissen. Hier im Krankenhaus sagten sie ihm, dass er bis auf die allseits bekannte schmutzige Unterwäsche nackt gewesen wäre, als der Alte ihn fand. Er wäre zwar in eine löchrige Decke eingewickelt gewesen, aber die Füße eben nicht. Und dann hatten die Ärzte bei Visite auf seine Füße gezeigt und ihm erklärt, dass sie die Zehen leider nicht mehr retten konnten. Deswegen also das komische Gefühl.
    »Kannst jetzt wieder Kinderschuhe tragen«, war der Kommentar seines Bettnachbarn, nachdem die Weißkittel aus dem Zimmer geschwebt waren. Und er hatte gelacht, wie ein Irrer, dem sie vergessen hatten, seine Tabletten zu geben.
    Das machte also fünf Krankenhausaufenthalte. Und er hatte keinen Pfennig dazu bezahlt! Im Gegenteil − allerdings fiel niemandem ein Zusammenhang zwischen seinen Aufenthalten hier und den zeitgleichen Diebstählen aus Nachttischen und Kleiderschränken auf. Man musste eben sehen, wie man zurechtkam, war seine Lebensdevise, und wenn sich eine Gelegenheit ergab, wäre man ja blöd, diese un genutzt vorüberziehen zu lassen!
    Als sie nach ihrer erfolglosen Suche nach diesem feigen Polizisten zum Ausgang marschiert waren − Ritter marschierte nicht, er humpelte −, überfiel die vier zeitgleich ein unbändiges Hungergefühl. Auslöser war die Klinikküche. Durch das Notstromaggregat weiter funktionsfähig, hatten die beiden Köche und zwei Helferinnen unbeirrt Es sen für Patienten und Personal zubereitet, drei verschiedene Menüs. Vergeblich versuchten sie jeden Tag, den vorgekochten, billigen Produkten so etwas wie Geschmack und Persönlichkeit zu verleihen, aber meist schmeckte das eine wie das andere, was blinde Esser dazu verdammte, immer den Tischnachbarn fragen zu müssen, was das nun ei gentlich wäre. Aber glücklicherweise waren die Sehenden in der Überzahl und so assoziierte das Sehen auch einen passenden Geschmack. Jedenfalls hatte der Geruch von gebratenem Fleisch, der durch das Treppenhaus wehte, bei ihnen den Hunger geweckt.
    »Kommt, wir essen erst mal was!«, hatte Ritter entschieden. »Ha ben ja nichts weiter vor im Moment, oder? Hat einer irgendwelche wichtigen Termine?«
    Sie hatten gelacht und nachdem Mario seinen Bruder geholt hatte, der im Wagen vor der Klinik die Waffen bewachte, war Fuchs vorausgegangen und hatte ihnen den Weg in die Kantine gezeigt. Zu dieser Zeit, kurz nach vier, war im Regelfall geschlossen – heute nicht. Also setzte Ritter sich an einen der Tische mit Blick hinaus in den Park und legte das

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