Rattentanz
mein Auto nehmen!«
»Und warum fährst du nicht selbst?«, wollte Kiefer wissen.
»Weil meine Augen kaputt sind – vom Zucker.«
»Und was geht uns das an?«
Sattler schien mit dieser Frage nicht gerechnet zu haben. Sein Blick wanderte zwischen Kiefer und Bubi hin und her und Überraschung wandelte sich in Fassungslosigkeit. »Immerhin«, stotterte er, »immerhin Bubi, kenne ich dich, da hast du noch fröhlich in die Windeln gemacht und du, Martin, haben wir nicht letztes Jahr noch zusammen …«
»Schnee von gestern«, unterbrach ihn Kiefer. Dann, in völlig verändertem Ton: »Aber mal angenommen, einer von uns lässt sich zu ei ner Spazierfahrt breitschlagen, was springt dabei raus für uns? Schließ lich scheint dir dein Insulin ja immens wichtig zu sein. Und so ein alter Junggeselle wie du«, Kiefers Lächeln wurde noch eine Spur breiter, »der hat doch sicher einiges auf der hohen Kante, oder? Was meinst du Bubi, hat er oder hat er nicht?«
Bubi nickte. Er betrachtete den Alten und schien ernsthaft über die Frage nachzudenken, was Sattler die ganze Sache wert sein könnte. Sattler selbst, kinderlos und ohne Verwandte im Dorf, war von Kiefers Antwort sichtlich verblüfft. Nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, dass jemand, den er kannte, versuchen würde, Kapital aus seiner Lage zu schlagen. Bisher war es immer eine Selbstverständlichkeit gewesen, dass man Hilfe erhielt und selbst auch half, wenn es an der Zeit war. Schließlich sieht man sich immer zweimal im Leben.
»Nun sag schon, Georg, was ist dir der Ausflug wert? Und vergiss nicht, so wie Anne und Bardo erzählen, muss es überall ziemlich chaotisch zugehen.«
Sattler war immer noch zu überrascht, um spontan auf Kiefers Angebot eingehen zu können.
»Weißt du was, Georg? Ich muss jetzt los, aber wenn du willst, komm ich morgen früh bei dir vorbei und dann sehen wir weiter. Oder, was meinst du?« Kiefer erhob sich und ließ Geld auf den Tisch klimpern. »Also bis morgen, in Ordnung?«
Sattler nickte.
»Und was wolltest du mir vorhin erzählen?«, fragte Bubi und zahlte ebenfalls.
»Erzähl ich dir morgen. Ich hol dich ab.«
Beim Verlassen des Gasthauses liefen die beiden Männer Susanne Faust in die Arme.
»Ist Papa drin?«, fragte sie.
Bubi schüttelte den Kopf.
»Hab ihn schon seit heute Nachmittag nicht mehr gesehen.« Susanne wirkte ratlos. Sie hatte gehofft, Frieder in der Wirtschaft zu finden und ihn mit nach Hause nehmen zu können. Eckard Assauer − oder Herr Mittwoch, wie Lea ihn getauft hatte − lag reglos im Gästezimmer und starrte in die Dunkelheit und Lea war erst vor einer halben Stunde endlich eingeschlafen. Das Kind wollte wach bleiben und auf seine Mutter warten. Susanne erklärte ihr, dass Eva sicher noch im Krankenhaus gebraucht werde und vielleicht erst spät in der Nacht heimkommen würde. Vielleicht auch erst am nächsten Tag. Aber Lea ließ sich davon nicht überzeugen. Erst als Susanne sie wie eine Erwachsene behandelte und an ihr Verantwortungsgefühl Herrn Mittwoch gegenüber appellierte, wurde Lea still. Sie überlegte kurz, dann rannte sie in das Gästezimmer und legte sich auf den Boden. Susanne brachte ihr eine Luftmatratze, Decke und ein Kissen.
»Du musst auf ihn aufpassen. Und wenn er nicht schlafen kann oder Angst hat, singst du ihm einfach ein Lied vor.«
»Kann ich noch meine Kassetten anhören?«
»Die sind drüben in deinem Zimmer. Außerdem ist doch kein Strom da.«
Susanne war danach ins Wohnzimmer gegangen. Sie setzte sich stocksteif auf die vordere Sofakante und wartete. Von oben hörte sie Lea Kinderlieder singen. Einige Male nahm Susanne gewohnheitsmäßig den Telefonhörer ab, um Frieder anzurufen. Stille. Sie war ins Wohnzimmer gegangen, wo sonst jeden Abend die letzten Stunden des Tages vor dem Fernseher vergingen. Stille.
Am Nachmittag hatte sie damit begonnen, den nutzlosen Gefrierschrank unten im Keller auszuräumen. Sie hatte das Wasser aus den Fächern gewischt und die vielen kleinen Päckchen mit Gemüse, Pizzen und Tupperdosen voller Soßen und Fleisch auf einem Tisch sortiert. Nach dem dritten Fach wurde ihr plötzlich die Sinnlosigkeit ihres Tuns bewusst. Warum tat sie das? All die aufgetauten Sachen würden in zwei, drei Tagen sowieso ungenießbar sein.
»Vielleicht macht er oben an der Absturzstelle noch irgendwas oder an der Leichengrube.«
»Jetzt noch?« Susanne sah sich auf der Straße um. Es war dunkel. Zu dunkel, um draußen noch irgendetwas erledigen zu
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