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Raue See

Raue See

Titel: Raue See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Westerhoff
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wollen uns doch frisch machen«, sagte er und traf sie wieder.
    Mit scharfem Strahle abgebraust / Die Peitsche auf sie niedersaust, dachte sie. So stand es in einem der Gedichte, die er ihr geschickt hatte. Sie versuchte zu erkennen, wer er war. Doch er trug eine Maske. Wieder versuchte sie, dem Wasser auszuweichen, und stolperte über die Kette. Sie fiel hin.
    »Pass doch auf«, sagte der Mann. »Du könntest dir wehtun!«
    »Arschloch!«, brüllte sie. Es war ja sowieso egal. Was sie erwartete, hatte sie schließlich schon sechs Mal mit eigenen Augen gesehen. Da konnte sie ruhig deutlich werden.
    Der Mann stellte das Wasser ab.
    »Du wagst es, mich Arschloch zu nennen?«, fragte er mit einem gefährlichen Zittern in der Stimme. »Ist dir überhaupt klar, in was für einer Situation du dich befindest?«
    »Du bist nicht nur ein Arschloch, sondern auch noch eine feige Sau«, provozierte Wiebke ihn und hoffte, durch Zusammenkauern wenigstens ein bisschen Körperwärme bei sich behalten zu können. »Nicht mal einer gefangenen Frau zeigst du dein wahres Gesicht.«
    Mit einem Ruck riss sich der Mann die Kapuze vom Kopf.
    Wiebke riss die Augen auf. »Ich … Reinhard … du?«, stammelte sie. »Ich denke, ich meine … du bist …«
    »In Australien? Das ist richtig. Wahrscheinlich haben deine lieben Kollegen schon im Hotel angerufen und die Bestätigung erhalten, dass ich eingecheckt habe. Sie suchen also einen anderen. Einen, den es gar nicht gibt.«
    »Das wird herauskommen.«
    »Das bezweifle ich«, sagte Bergmüller. »Es ist seit fast dreißig Jahren nie was herausgekommen.«
    »Du tötest seit dreißig Jahren?«, fragte Wiebke und fror nicht mehr nur wegen der Kälte.
    »Ich töte nicht, ich räche. Es ist gerecht, was ich tue.«
    Wiebke erschauderte, denn es klang so, als wenn er von dem Schwachsinn, den er gerade erzählte, wirklich überzeugt war.
    »Ich habe Durst«, sagte sie. Sie erinnerte sich daran, dass man ihr beigebracht hatte, dass ein zum Mord Entschlossener am ehesten davon abzubringen war, wenn man eine persönliche Beziehung aufbaute. Vielleicht war das ihre letzte Chance. Denn dass man sie finden würde, hielt sie für wenig wahrscheinlich. Sie hatte es ja schließlich auch nicht geschafft, die anderen Frauen zu finden. Und auch jetzt nicht einmal den Hauch einer Ahnung, wo sie sich befinden könnte.
    »Entschuldigung«, sagte Bergmüller in süffisant gekünstelter Höflichkeit. »Ich bin ein schlechter Gastgeber.« Er ging eine Treppe, mehr eine Stiege, hinauf, die wohin auch immer führte, und kam mit zwei Hundenäpfen aus Edelstahl zurück, die er durch die Gitterstäbe schob. »Wir wünschen einen guten Appetit.«
    Wiebke sah in die Näpfe. Ihr wurde schlecht. In einem befand sich Wasser, in dem anderen ein undefinierbarer Brei.
    »Wenn du glaubst, dass ich hier auf Knien wie ein Köter aus diesen Näpfen fressen und saufen werde, hast du dich geschnitten«, sagte sie.
    »Du wirst«, sagte er. »Das haben bisher alle getan. Selbst wenn der Mensch genau weiß, dass er sterben wird, isst und trinkt er. Der Überlebensinstinkt ist einfach zu stark.«
    »Ich werde die Ausnahme sein«, sagte Wiebke.
    »Du kannst es ruhig tun, wenn ich hier bin. Ich sehe es sowieso«, meinte Bergmüller ungerührt und deutete auf die Kamera an der Decke.
    Da kannst du lange warten, dachte sie.
    »Wo sind die Leichen?«, platzte es aus ihr heraus. »Wo hast du dreißig Jahre lang die Leichen verscharrt?«
    »Das möchtest du wohl gern wissen?«
    »Ja.«
    »Ich sag’s dir aber nicht. Sei unbesorgt, auch deine Leiche wird man nicht finden.«
    Verwickel ihn in ein Gespräch, Wiebke. Los, reiß dich zusammen, dachte sie. Komisch, was für Kräfte man entwickelte, wenn es hart auf hart kam.
    »Warum ich? Was habe ich getan? Wir verstehen uns doch.«
    »Du bist schon zwanzig Jahre tot«, sagte Bergmüller.
    »Wie bitte?«
    »Als du mich vor zwanzig Jahren abgewiesen hast, warst du schon gestorben.«
    »Das hatte doch nichts mit dir zu tun.«
    »Nicht? Womit dann?«
    »Ich hatte es dir doch erklärt.«
    »Erklärt hast du mir, dass du keinen Wessi wolltest.«
    »Ja, und?«
    »Eine verlogene Schlampe bist du, wie alle.« Sein Atem wurde beunruhigend schnell. Sein Blick war kalt, und er wirkte richtiggehend wütend. »Du bist jetzt schon das zweite Mal verheiratet. Und wo kamen die beiden Glücklichen her? Hmm?«
    Wiebke schwieg.
    »Eben. Beides Wessis. Also war das eine Lüge. Und für diese Lüge bestrafe ich

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