Raue See
bin.«
»Unsinn.«
Randolph kam unmittelbar zur Sache. »Wo ist das Gedicht?«, fragte er.
Streicher deutete auf das TV -Gerät. Randolph drückte ihm Jonas in den Arm. Dann starrten er und Günter wie gebannt auf den durchlaufenden Text. Günter liefen die Tränen über die Wangen, und aus Randolphs Physiognomie konnte Streicher förmlich ablesen, dass der Mann, der Wiebke in seiner Gewalt hatte, nicht mehr lange leben würde.
»Wir haben kaum eine Chance, also müssen wir sie nutzen«, meinte Randolph schließlich kühl. »Er hat bisher zugeschlagen, ohne dass die Polizei auch nur den Hauch einer Chance hatte. Nach dem, was Sie mir erzählt haben, Herr Dr. Streicher, muss er selbst Polizist sein. Also müssen wir ihn jagen.«
»Das sehe ich genauso«, antwortete Streicher. »Aber wir zu dritt? Gegen ihn, der eine siebzehnköpfige Soko bis zur Lächerlichkeit vorgeführt hat?«
»Wo können wir die Zentrale aufbauen?«, fragte Randolph, ohne auf Streichers Bemerkung einzugehen.
»Die Akten befinden sich schon bei mir zu Hause im Keller. Dort ist auch noch Platz. Warum fragen Sie das?«
»Es wird nicht mehr gefragt, sondern nur noch das getan, was ich sage«, bellte Randolph in militärischem Ton.
»Jawoll«, entfuhr es Streicher. Er fühlte sich wieder wie damals, in den Achtzigern, beim Bund.
»Wo ist das, Ihr Haus?«
»Akazienweg 12.«
Randolph nickte und begann zu telefonieren. Er führte insgesamt acht Gespräche. Keines dauerte länger als zwei Minuten. Alle begannen mit der Begrüßung und dem Satz: »Ich müsste bei mir die Wände streichen, kannst du mir helfen?« Danach gab Randolph meist nur noch die Adresse durch, es folgten ein paar Höflichkeitsfloskeln, und das Gespräch war zu Ende.
»Ich habe sechs Mann rekrutiert«, meldete er am Ende. »Zwei sind leider unheilbar krank und keine Hilfe.«
»Beim Wändestreichen?«, fragte Streicher unbeholfen.
Randolph wandte sich Günter zu. »Ist er vertrauenswürdig?«, fragte er.
Günter nickte. »Sonst hätte er uns wohl kaum informiert.«
»Um es kurz zu machen: Ich war früher Agent der DDR . Außer Günter und jetzt Ihnen weiß das niemand, und ich möchte darum bitten, dass das so bleibt. Die Akten über mich hat Wiebke damals in den Wirren der Wiedervereinigung an sich gebracht und vernichtet. Ich habe eben mit einem alten Notfallcode meine Kollegen im Ruhestand reaktiviert. Sechs kommen, zwei haben leider Krebs und wären uns alles, nur keine Hilfe.«
Na prima, dachte Streicher. Wir jagen mit einer Rentnergang einen sechsfachen Serienmörder.
»Auf geht’s«, befahl Randolph.
»Ein Problem haben wir allerdings noch«, sagte Streicher und deutete mit einem Kopfnicken auf den kleinen Jungen auf seinem Arm.
»Günter«, murmelte Randolph. »Du bist doch ohnehin emotional viel zu aufgewühlt, würdest du …«
»Oh nein«, widersprach Günter. »Meine Frau ist in der Hand eines Irren, der angekündigt hat, sie auf grausame Weise zu töten. Ausgeschlossen, dass ich nicht dabei bin.«
Randolph nickte verständnisvoll. »Streicher, gibt es in eurem Verein irgendein vertrauenswürdiges Weichei?«
Streicher musste trotz der Ernsthaftigkeit der Situation lächeln. Der Mann machte seinen Job richtig gut. Er überlegte. Dann sagte er: »Carsten Franck. Der ist neu in Rostock und erst achtundzwanzig.«
»Was hat das Alter damit zu tun?«, fragte Randolph verärgert. Er wurde in dieser Hinsicht von Jahr zu Jahr sensibler.
»Der Täter muss jenseits der fünfzig sein.«
»Wieso denn das?«, brüllte Randolph. Streicher und Günter zuckten zusammen.
»Weil sein Komplize so alt war und wir davon ausgehen müssen, dass die beiden sich Anfang der Neunziger kennengelernt haben …«
»Das ist der Grund, warum ihr ihn bislang nicht gekriegt habt! Ihr glaubt nur das Naheliegende.«
»Na ja, da gibt es noch einen anderen Grund«, murmelte Streicher.
»Der wäre?«
»Franck ist schwul wie zehn Friseure.«
»Hmmm«, brummte Randolph. »Tunte oder Dominus?«
»Eher Tunte«, antwortete Streicher.
»Lasse ich gelten«, meinte Randolph nach kurzem Überlegen. »Trotzdem. Günter, du prüfst, ob dieser Franck für den Zeitpunkt von Wiebkes Entführung, also heute Vormittag zwischen acht Uhr bis zwölf Uhr dreißig, ein wasserdichtes Alibi hat. Sobald das geklärt ist, bringt Ihr den Kleinen zu ihm. Danach kommt ihr in die Zentrale.«
»Der hat aber vermutlich Dienst«, wandte Günter ein.
»Dann soll er Urlaub nehmen, krankmachen oder so
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