Raus aus dem Har(t)z IV!
ernste Themen zu sprechen, ohne dabei in depressive Stimmung zu verfallen. Die drei hatten sich mit dem Alltag hervorragend arrangiert und ließen sich scheinbar von keinem Rückschlag aus der Bahn werfen. Sie machten es wie ich in dieser Zeit: Es einfach nehmen wie es kommt und versuchen, das Beste daraus zu machen. Nur nicht verzagen oder den Kopf in den Sand stecken. Das machte mir die jungen Männer sympathisch, auch wenn ich nicht alle Meinungen und Ansichten teilen konnte. Alle drei schienen ähnliche, vergleichbare Schicksale hinter sich zu haben und was sie einte war der Willen und die Motivation, sich damit nicht abfinden zu wollen, selbst wenn sie sich kurzzeitig arrangieren mussten. Stefan wurde als Zeitarbeiter von Firma zu Firma gereicht und wenn es darum ging, ihm eine Anstellung zu geben, die über das Zeitarbeitsverhältnis hinausging, dann kniffen alle. Wäre seine Zeitarbeitsfirma nicht insolvent geworden, er wäre noch heute vermutlich auf der Tournee durch die größten deutschen Produktionsbetriebe. Tobias hatte es da etwas angenehmer und musste nicht so oft wechseln, auch wenn er letztendlich dem gleichen Schicksal nicht entkommen konnte. Personalabbau im großen Stil und als Single ohne Bindungen und Verpflichtungen traf der Arbeitsplatzabbau nach ‚Sozialauswahl‘ eben ihn. Was an einem Abbau von einem Arbeitsplatz ‚sozial‘ sein kann weiß ich bis heute auch nicht. ‚Sozialauswahl‘ ist nichts anderes als ein modernes Wort für ‚Russisches Roulette‘, nur klingt es eben nicht so, dass es aggressiv macht und verdächtig wirkt. ‚Russisch Roulette‘ in Amtsdeutsch quasi. Tja, und der nette Michael, der dritte im Bunde. Dem konnte man noch bei etwas kritischer Einstellung am Ehesten eine Mitschuld an seiner misslichen Lage unterstellen, was ich auch mit schöner wiederkehrender Regelmäßigkeit unterschwellig verlauten ließ. Wie mit kleinen Stecknadeln stach ich damit bei jeder sich bietenden Gelegenheit, immer wenn das Thema zur Sprache kam, auf ihn ein. Er war so naiv an die große Liebe zu glauben. Lernte auf einer Flirt Plattform im Internet eine Frau kennen und beging den Fehler, sich in diese zu verlieben. Nur wie verzweifelt muss man sein, sich in ein Bild und einige nette Zeilen im Chat verlieben zu können. Aber Jeder ist eben anders in solchen Dingen. Irgendwie ist ja auch das Bemitleidenswert. Er lernte also seine vermeintliche Traumfrau kennen, die es ihm mit weiteren Bildern und regelmäßigen Chats dankte. So kam dann Eines zum Anderen und es wurde intimer und inniger. Vermutlich hat er sich regelmäßig auf das Bild der hübschen Blondine einen runter geholt, ich weiß es nicht. Aber was ich weiß ist, dass er tatsächlich in einem Moment geistiger Umnachtung alles hingeschmissen hat, was er sich zuvor aufbaute und beschloss, zu dieser Frau, zu der das Bild gehören sollte, zu fahren. Nur als er mit der Überraschung rauskam im nächsten Chat mit seiner Angebeteten, dass er bereits in die neue Stadt gezogen wäre um mit ihr seine Zukunft zu verbringen, da stellte sich die Angebetete als Angebeteter verkappter Schwuler heraus, der versucht hat, in seinem kranken Hirn wenigstens eine virtuelle Beziehung führen zu können. Die Bilder waren natürlich von einer anderen Website zuvor heraus kopiert und bearbeitet worden, um möglichst echt auszusehen. So stand er dann da, keine Frau, keine Arbeit und nicht die Zukunft, die er sich erhoffte, als er alles stehen und liegen ließ, um ein neues Leben zu beginnen. Irgendwie war seine Geschichte die, die mich am meisten bewegte, so weltfremd sie auch war. Zeigte sie mir doch, dass Michael eigentlich ein emotionaler, herzensguter Mensch war. Wer weiß schon immer so genau, was sich hinter einem Profilfoto im Internet verbergen kann? Nur ob man für ein paar nette Zeilen im Chatfenster gleich sein Leben komplett neu planen und vor allem Etabliertes einfach so aufgeben sollte, das sei einmal dahingestellt.
***
Wir genossen unseren Nachtisch an jenem Abend –das fantastische Tiramisu, was mir sehr viel Lob einbrachte, Becher öffnen ist auch nicht immer so leicht- und ich beschloss, einen Rotwein auf den Tisch zu stellen. Warum nicht diesen bislang netten Abend, wenn man einmal von der holprigen Begrüßung absieht, ein angenehmes Ende bereiten? Für einen kurzen Moment hatte ich den mich selbst fragenden Hintergedanken, ob es mir gelingen würde wenigstens einen von den Drei so betrunken zu machen, dass er anschließend
Weitere Kostenlose Bücher