Raven (Amor-Trilogie) (German Edition)
bekommt. Mit einem Gesicht, das so ehrlich ist wie das eines Kindes. So verängstigt. »Ich wünschte, du würdest mich den schwierigen Part übernehmen lassen.«
»Wo bliebe dann der Reiz?« Ich drücke die Finger an meine Lippen und halte sie an seine Brust. Das ist unser Zeichen. Wir sind beide nicht besonders gefühlsduselig und außerdem ist es zu riskant, sich in Zombieland zu küssen. »Wir sehen uns auf der anderen Seite.«
»Auf der anderen Seite«, wiederholt er, dann steigt er aus dem Lieferwagen und rennt über die Straße, auf der das Regenwasser steht.
Ich zähle sechzig Sekunden ab, rücke ein paar letzte Dinge zurecht, klappe den Spiegel herunter und sehe mir meine Zähne an. Dann taste ich nach der Pistole, die in meiner Jacke steckt, und überprüfe die Vorräte in meiner rechten Jeanstasche. Alles gut. Alles da. Ich zähle noch mal bis sechzig – das hilft mir dabei, mich zu beruhigen. Es gibt nichts, wovor ich Angst haben müsste.
Ich weiß, was ich tue. Das wissen wir alle. Zu gut.
Manchmal male ich mir aus, dass Tack und ich uns einfach abseilen – aus dem ganzen Krieg, dem Kampf, der Widerstandsbewegung aussteigen. Auf Nimmerwiedersehen sagen. Wir würden nach Norden gehen und uns zusammen ein Zuhause aufbauen, weit weg von allem und jedem. Wir wissen, wie man überlebt. Wir könnten es schaffen. Fallen stellen, unser Essen jagen und fischen, anbauen, was wir können, einen ganzen Schwung Kinder hervorbringen und so tun, als gäbe es den Rest der Welt nicht. Soll sie doch in die Luft fliegen, wenn sie will.
Träume.
Zweieinhalb Minuten sind vergangen. Ich mache die Tür des Lieferwagens auf und springe auf den Bordstein. Der Regen ist jetzt nicht viel mehr als Nebel, aber die Rinnsteine laufen immer noch über, noch immer wirbeln Strudel aus zerdrückten Kaffeebechern, Zigarettenkippen und Flyern umher.
Als ich die Tür zur Klinik aufdrücke, bin ich in einer anderen Welt. Ich sehe dicke grüne Teppiche und Möbel, die so blank poliert sind, dass sie glänzen, und eine große auffällige Uhr in der Ecke, auf der die Minuten voranticken. Kein schlechter Platz zum Sterben, wenn man die Wahl hätte.
Tack steht am Empfang und trommelt mit den Fingern auf die Theke. Er beachtet mich kaum, als ich eintrete.
»Es tut mir furchtbar leid, Doktor.« Die Laborantin hinter dem Schreibtisch tippt energisch auf irgendwelchen Tasten herum. Ihre Finger sind dick und von Ringen beschwert, die ihr tief ins Fleisch schneiden. »Eine Inspektion heute – da muss einfach ein Irrtum vorliegen.«
»Es steht in den Akten«, sagt Tack mit einer Stimme, die zu jemand Älterem, Dickeren und Geheilten gehört. »Alle Kliniken sind einer jährlichen Kontrolle unterworfen …«
»Entschuldigen Sie«, unterbreche ich ihn laut, als ich auf die Theke zugehe. Ich vergewissere mich, ein bisschen wackelig zu gehen, nur zum Schein. Tack und ich können später darüber lachen. »Entschuldigen Sie«, wiederhole ich noch etwas lauter. Zu laut für den Raum.
»Sie müssen bitte einen Moment warten«, sagt die Empfangsdame zu mir, während sie den Telefonhörer abhebt. Dann wendet sie sich sofort wieder an Tack. »Es tut mir so leid. Sie haben ja keine Ahnung, wie peinlich …«
»Das muss Ihnen nicht leidtun«, sagt er. »Sorgen Sie einfach dafür, dass jemand runterkommt, der mir weiterhelfen kann.«
»Hey.« Ich beuge mich über die Theke. »Hören Sie mal, ich rede mit Ihnen.«
»Entschuldigung!« Sie verliert die Nerven. Sie macht sich wahrscheinlich gerade vor Angst in die Hose, glaubt, die ganze Klinik würde geschlossen, weil sie das Datum der Überprüfung verschlampt hat. »Ich bin gerade beschäftigt. Wenn Sie einen Termin haben, müssen Sie sich eintragen und im Wartezimmer …«
»Ich habe keinen Termin.« Jetzt drehe ich voll auf, schreie beinahe. Tacks angewiderter Blick ist sehr gekonnt. »Und ich werde nicht warten. Ich habe da einen Ausschlag, wissen Sie. Er macht mich wahnsinnig! Ich kann kaum sitzen.«
Ich mache meinen Gürtel auf und fange an, meine Hose runterzuschieben, als wollte ich ihr meinen nackten Hintern präsentieren. Tack zuckt mit einem angewiderten Geräusch zurück und die Krankenschwester knallt den Hörer auf und kommt geradezu um die Theke herumgestürzt.
»Hier entlang, bitte sehr.« Sie packt mich mit einer Hand am Arm. Ich kann den Schweiß unter ihrem Parfüm riechen. Sie führt mich schnell aus dem Empfangsbereich – weg von Dr. Howard Rivers, dem medizinischen
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