Raven (Amor-Trilogie) (German Edition)
Inspektor, damit ich keinen Schaden anrichten kann, damit ich die Klinik nicht weiter in Verlegenheit bringen kann – und durch eine Doppeltür in einen langen weißen Flur. Ich verspüre einen Anflug von Aufregung in der Brust, eine kleine Unterbrechung, wie immer, wenn ein Plan so läuft wie erwartet. Mit der freien Hand taste ich in meiner rechten Jeanstasche nach der kleinen Glasflasche, entkorke sie mit dem Daumen und lasse den Inhalt auf den Lappen tröpfeln, der ebenfalls in der Tasche steckt. Azeton, Bleichmittel und Wärme.
Nicht so gut wie fertiges Chloroform, aber es tut’s.
»Der Doktor kommt gleich zu Ihnen«, sagt sie und schnauft von der Anstrengung, mich vorwärtszuschieben. Sie schubst mich beinahe in ein kleines Untersuchungszimmer und steht dann mit einer Hand auf dem Türknauf da, ihre Brüste heben und senken sich unter ihrem Schwesternkittel. Der Flur hinter ihr ist leer. »Wenn Sie einfach kurz hier warten …«
»Ich hasse es zu warten«, sage ich, trete vor und halte ihr den Lappen vors Gesicht.
Sie ist sehr schwer, als sie zusammensackt.
Mach mich los, dann helfe ich dir.
Die Worte hatten sich in meinem Kopf festgesetzt, es war Hohn und gleichzeitig ein Versprechen. Ich glaubte nicht, ihm trauen zu können. Und es wäre Verrat – an Grandma und den anderen Siedlern, die Blue und mich aufgenommen hatten. Wenn ich geschnappt wurde, wenn uns der Dieb reinlegte, würde ich dafür bezahlen müssen. Vielleicht würde dann ich im Krankenzimmer gefesselt, während ich darauf wartete, dass die Gruppe entschied, was mit mir geschehen sollte.
Aber Blue ging es immer schlechter.
Ich hatte solche Angst – solche Angst, vor allem damals, ich war nur ein dürres kleines Etwas, das in einer Kurzschlusshandlung beschlossen hatte abzuhauen und keine Ahnung hatte, was sie da tat. Mein Vater hatte mir immer gesagt, ich sei beschränkt, ein Jammerlappen, ein Loser. Und damals hatte er vielleicht sogar Recht.
Ich wusste, dass der Dieb keine Angst hatte. Das war deutlich zu erkennen. Er hatte keine Angst vor mir oder den anderen Siedlern und keine Angst vor dem Sterben.
Als Blue anfing, im Schlaf zu gurgeln und zu krächzen und dann zehn Sekunden ohne einen Atemzug vergingen, bevor sie wieder nach Luft schnappte, stahl ich ein Messer aus der Küche und nahm es mit ins Krankenzimmer. Meine Hände zitterten. Das weiß ich noch, weil ich die ganze Zeit an die Hände meiner Mutter denken musste, die mit dem Besteck klapperten, flatterten wie Vögel; wild, panisch. Ich fragte mich, ob sie überhaupt mal an mich gedacht hatte, seit ich weg war.
Es war spät. Alle anderen schliefen – jetzt, wo der Dieb geschnappt war, hielt es nicht mal Gray für nötig, Wache zu halten.
Das Lächeln des Diebes war wie eine Sichelschneide im Dunkeln. Ich ging vor ihm in die Hocke.
»Du hast es mir versprochen«, sagte ich. »Du hast versprochen, mir zu helfen.«
»Großes Ehrenwort«, sagte er. Der Klang seiner Stimme gefiel mir nicht – es hörte sich an, als lachte er mich aus –, aber ich schnitt ihn mit einem unguten Gefühl trotzdem los, weil ich wusste, dass Blue sonst sterben würde. Vielleicht trotzdem starb.
Er stand auf und stöhnte leise. Mir war nicht bewusst gewesen, wie groß er war. Ich hatte ihn nur sitzend oder liegend gesehen, seit er hergebracht worden war. Ich trat einen Schritt zurück und zuckte zusammen, als er die Arme über den Kopf streckte.
Sein Lächeln verschwand, sein Gesichtsausdruck wurde härter. »Du traust mir nicht, stimmt’s?«, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf. Er streckte die Hand nach dem Messer aus und nach kurzem Zögern gab ich es ihm.
»Gegen Mittag bin ich zurück«, sagte er. Mein Herz hämmerte mir bis zum Hals, ein Rhythmus, der sagte: Bitte, bitte, ich zähle auf dich. Er zeigte mit dem Kinn auf Blue. »Halt sie bis dahin am Leben.«
Dann war er weg, bewegte sich lautlos durch die dunklen Flure und verschwand in den Schatten. Und ich saß da, hielt Blue, und war voller Angst, die wie schwarzer Nebel in meiner Brust hockte. Ich wartete.
Lügen sind nichts weiter als Geschichten, und Geschichten sind alles, worauf es ankommt. Wir alle erzählen Geschichten. Vielleicht sind einige wahrhaftiger als andere, aber letzten Endes ist nur wichtig, was man die Leute glauben machen kann.
Ich habe das Geschichtenerzählen von meiner Mutter gelernt. »Deinem Vater geht es heute nicht gut«, sagte sie. Sie sagte: Ich hatte einen Unfall. Sie sagte: Denk dran, was
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