Raven (Amor-Trilogie) (German Edition)
ganze Straße aus dunkel gewordenen roten Backsteinen, mit Vogeldreck bedeckten Vordertreppen und Blindheit.
»Wir sind früh dran«, sagt er.
»Sie hat mindestens sieben Stunden Vorsprung«, wende ich ein.
»Trotzdem, wenn sie zu Fuß unterwegs ist …« Er zuckt mit den Schultern.
»Wir warten«, entgegne ich. »Bieg nach links auf die 19. Straße ein. Ich will mich mal in der Gegend umsehen.«
Die Nordost-Klinik, wo Julian Fineman sterben soll, ist in der 18. Straße; wir können dem Radio dankbar dafür sein, uns dieses kleine Detail verraten zu haben. Ich bin überrascht, dass nicht mehr Journalisten da sind. Aber vielleicht sind sie auch schon drinnen, auf der Jagd nach dem besten Platz. Tack fährt zweimal um den Block – nicht oft genug, um verdächtig zu wirken, falls uns jemand sieht – und wir sprechen erneut über den Plan. Dann parkt er und wartet auf mich, während ich einmal zu Fuß um den Block gehe, die Ein- und Ausgänge absuche, die Nachbargebäude überprüfe, nach möglichen Problempunkten, Sackgassen und Verstecken Ausschau halte.
Ich muss mehrfach stehenbleiben, durchatmen und den Brechreiz unterdrücken.
»Hast du einen Platz für den Rucksack gefunden?«, fragt Tack, als ich wieder in den Lieferwagen steige.
Ich nicke. Er fädelt sich vorsichtig in den nicht vorhandenen Verkehr ein. Das ist noch etwas, das ich an Tack liebe: wie vorsichtig er ist. Geradezu penibel manchmal. Und dann ist er wieder vollkommen frei – lacht schnell, ist voller verrückter Ideen. Diese Seite von ihm bekommt kaum jemand zu sehen. Wie schnell er spricht, wenn er aufgeregt ist. Wie gern er immer und immer wieder das Wort Liebe sagt.
Liebe. Ich liebe dich. Ich werde dich immer lieben, meine Liebe. Du bist die Liebe meines Lebens.
Diese Dinge behalten wir für uns, in unserem tiefsten Inneren. In den anerkannten Städten wird das zuerst niedergetrampelt, sogar noch vor dem Eingriff – die Wunden, Eigenheiten und die Teile, die wir wie unförmige Geschenke mit uns herumtragen und darauf warten, dass irgendjemand sie willkommen heißt.
Manchmal fällt es mir immer noch schwer, Liebe zu sagen, selbst wenn wir allein sind, selbst nach so langer Zeit. Wir haben unsere eigene Sprache erfunden, darin, wie wir uns aneinanderdrängen und unsere Nasen sich berühren, wenn wir uns küssen. Und ich sage seinen Namen – seinen richtigen Namen. Einen Namen, der den Geschmack von Sonnenschein mit sich bringt, von Sonnenschein, der den Nebel aus den Bäumen vertreibt, und von Nebel, der in den Himmel aufsteigt.
Seinen geheimen Namen, der nur mir und ihm gehört und sonst niemandem.
Michael.
Habe ich ihr je gesagt, dass ich sie liebe?
Ich weiß es nicht.
Ich kann mich nicht erinnern.
Ich habe es jeden Tag gedacht.
Es tut mir leid.
Jetzt ist mir die ganze Zeit übel. Das Unwohlsein hat mich fest im Griff. Der Gedanke an sie ist zu viel für mich und die Säure steigt mir aus dem Magen hoch und brennt mir in der Kehle.
»Halt an«, sage ich zu Tack.
Ich übergebe mich hinter einem Auto, das aussieht, als wäre es seit Jahren nicht bewegt worden. Es steht neben einer kleinen Apotheke, auf deren abgewetzter blauer Markise sich der Regen sammelt. Die senkrechte Neonreklame, die BERATUNG und DIAGNOSE verheißt, ist dunkel, aber hinter der schmuddeligen Tür hängt ein kleines orangefarbenes Schild: GEÖFFNET. Einen Moment überlege ich reinzugehen, mir irgendeine Geschichte auszudenken, zu versuchen, noch einen Test zu bekommen. Nur um sicher zu sein. Aber das ist zu riskant und ich muss mich jetzt auf Lena konzentrieren.
Ich renne zurück zum Lieferwagen, meine Jacke wie ein Zelt über den Kopf gebreitet. Jetzt, nachdem ich mich übergeben habe, geht es mir etwas besser.
Durch den Rinnstein strömt Müll, Papierfetzen und Wegwerfbecher wirbeln in den Gully. Ich hasse die Stadt. Ich wünschte, ich wäre mit dem Rest der Gruppe in der Lagerhalle, beim Einpacken, Leute durchzählen, Vorräte abmessen. Ich wünschte im Grunde, irgendwo ganz anders zu sein – mich durch die Wildnis zu kämpfen, die sich dauernd verändert, immer weiter wächst; sogar gegen die Schmarotzer zu kämpfen.
Egal wo, außer in dieser hoch aufragenden, grauen Stadt, in der sogar der Himmel auf Abstand gehalten wird.
In der wir so klein sind wie Ameisen.
Der Lieferwagen riecht nach Schimmel, Tabak und seltsamerweise nach Erdnussbutter. Ich öffne das Fenster einen Spaltbreit.
»Was war das denn?«, fragt Tack.
»Mir war nicht
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