Raven (Amor-Trilogie) (German Edition)
unerträglich wurde, dass sie einem unter die Haut kroch und überall juckte.
Mari überlebte diesen Winter nicht. Die zweite Totgeburt hatte sie schwer mitgenommen; schon vor dem Winter hatte sie manchmal ganze Tage zusammengerollt auf ihrer Pritsche verbracht, einen Arm um die leere Stelle geschlungen, wo ein Baby hätte liegen sollen. In diesem Winter war etwas Brüchiges in ihr schließlich zersprungen und eines Morgens, als wir aufwachten, fanden wir sie von einem Holzbalken im Lebensmittellager baumelnd.
Es schneite so stark, dass wir sie nicht rausbringen konnten; wir mussten zwei Tage lang neben ihrer Leiche leben.
Wir verloren auch Tiny, der eines Tages den Versuch unternahm jagen zu gehen, obwohl wir ihm sagten, es habe keinen Zweck, die Tiere seien gar nicht draußen und es sei zu gefährlich. Aber er wurde verrückt davon, so lange eingesperrt zu sein, verrückt von dem ständigen Hunger, der wie eine Ratte an seinem Inneren nagte. Er kehrte nie zurück. Wahrscheinlich verlief er sich und erfror.
Daher beschlossen wir in meinem zweiten Jahr umzuziehen. Eigentlich war es Grays Entscheidung, aber wir waren alle einverstanden. Bram, der im Sommer zu uns gestoßen war, erzählte uns von einigen Stützpunkten weiter südlich, freundlichen Orten, wo wir Unterschlupf finden würden. Im August sandte Gray Kundschafter aus, um Strecken aufzuzeichnen und nach Lagerplätzen zu suchen. Im September begannen wir mit der Umsiedlung.
Die Schmarotzer schlugen in Connecticut zu. Ich hatte schon von ihnen gehört, aber noch nie etwas Konkretes – eher Gerüchte und Legenden wie die Gruselgeschichten, die meine Mutter mir als Kind erzählt hatte, damit ich mich benahm. Pssst. Leise, sonst weckst du den Drachen auf.
Es war spät und ich schlief, als Squirrel, der Wache hielt, Alarm schlug: zwei Schüsse, die er in der Dunkelheit abfeuerte. Aber es war schon zu spät. Plötzlich schrien alle. Blue – bereits größer, hübsch, mit den Augen einer Erwachsenen und einem spitzen Kinn wie meinem – wachte brüllend und verängstigt auf. Sie wollte das Zelt nicht verlassen. Sie klammerte sich an den Schlafsack, trat mich weg und rief immer wieder Nein, nein, nein.
Als es mir schließlich gelungen war, sie hochzuheben, auf den Arm zu nehmen und aus dem Zelt zu tragen, dachte ich, die Welt würde untergehen. Ich hatte mir ein Messer geschnappt, wusste aber nicht, was ich damit anfangen sollte. Ich hatte einmal ein Tier gehäutet und mich dabei beinahe übergeben müssen.
Später fand ich heraus, dass sie nur zu viert waren, aber in diesem Moment kam es mir so vor, als wären sie überall. Das ist einer ihrer Tricks. Chaos zu stiften. Verwirrung. Es brannte – zwei Zelte gingen wie Streichholzköpfe in Flammen auf –, Schüsse knallten und Menschen schrien.
Ich konnte nichts weiter denken als Lauf . Ich musste weglaufen. Ich musste Blue hier wegbringen. Aber ich konnte mich nicht rühren. Die Angst war wie ein eisiges Gewicht in mir, das mich festhielt – genau wie damals, als ich ein kleines Mädchen war, und mein Vater die Treppe runterkam,seine Wut wie eine Decke, mit der er uns alle ersticken wollte; wenn ich aus einer Ecke zusah, wie er meine Mutter in die Rippen und ins Gesicht trat, unfähig zu weinen, sogar unfähig zu schreien. Jahrelang stellte ich mir vor, dass ich ihm das nächste Mal, wenn er die Hand an mich oder sie legte, ein Messer zwischen die Rippen rammen würde, bis hin zum Griff. Ich dachte an das Blut, das aus der Wunde quellen würde, und wie gut es sich anfühlen würde zu wissen, dass er genau wie ich aus echten Teilen gemacht war, aus Knochen, Gewebe und Haut, die verletzt werden konnten.
Aber jedes Mal war ich erstarrt, leer wie eine Hülse. Jedes Mal tat ich nichts weiter, als es über mich ergehen zu lassen: rote Sternenregen-Explosionen im Gesicht, hinter den Augen; Kniffe und Schläge; heftige Stöße vor die Brust.
»Los, los!«, rief Tack von der anderen Seite des Lagers her. Ohne nachzudenken rannte ich auf ihn zu, ohne darauf zu achten, wo ich hinlief, immer noch besinnungslos vor Panik. Blue benässte meinen Hals mit Rotz und Tränen und mein Herz schmerzte bohrend in meiner Brust. Den von links kommenden Schmarotzer sah ich erst, als er einen Schläger auf meinen Kopf zuschwang.
Ich ließ Blue los. Ich ließ sie einfach auf den Boden fallen und ging hinter ihr hart auf die Knie, um sie gegen den Angreifer abzuschirmen. Ich packte sie mit einer Hand an der Schlafanzughose
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