Raven - Schattenreiter (6 Romane)
Tiefe.
Card zögerte nur eine halbe Sekunde, ehe er mit dem Abstieg begann. Wenn einer der Dämonen noch am Leben und auf dem Boot war, würde er ihn unter Garantie dort unten erwarten, aber dieses Risiko musste er eingehen. Die Dämonen durften kein zweites Mal entkommen!
Er schlich vorsichtig die Treppe hinunter und blieb an ihrem unteren Ende stehen. Eine schmale, lose in den Angeln pendelnde Tür befand sich vor ihm. Card presste sich daneben an die Wand und schob sie behutsam mit dem Fuß auf. Dahinter lag ein kleiner, enger Raum mit niedriger Decke, der von einer wild hin und her pendelnden Petroleumlampe in flackerndes gelbes Licht getaucht wurde.
Card spannte sich, stieß die Tür mit einem Ruck auf und sprang vollends in den Raum.
Das Szenarium kam ihm auf vage Weise bekannt vor. Die spartanische Einrichtung war in Stücke geschlagen worden, als hätte hier unten ein Kampf auf Leben und Tod getobt. Tische und Stühle waren zertrümmert und umgeworfen. Eine der beiden in die Wand eingelassenen Kojen war zu einem wirren Haufen zerbrochener Bretter und aufgeschlitzter Wäsche zerfetzt. Und in diesem Chaos lag eine riesenhafte, schwarze Gestalt - Boraas!
Card ächzte verblüfft und trat einen Schritt zurück.
Die Bewegung rettete ihm das Leben.
Etwas Großes, Silbernes zuckte an seinem Gesicht vorbei durch die Luft und grub sich splitternd in die Überreste des Tisches.
Card bemerkte eine Bewegung aus den Augenwinkeln, drehte sich instinktiv zur Seite - und erhielt einen Fauststoß in die Rippen, der ihm die Luft aus den Lungen presste und ihn gegen die Wand taumeln ließ.
Er versuchte, seine Waffe emporzureißen, aber der unheimliche Angreifer war viel zu schnell. Ein wuchtiger Schlag schmetterte Card die Pistole aus der Hand. Er schrie auf, duckte sich und entging um Haaresbreite einem weiteren Hieb des Dämons. Der scharfe Stahl des Krummsäbels hackte dicht neben ihm in die Wand.
Card trat blind aus, traf irgendetwas und wälzte sich schwerfällig zur Seite, um aus der Reichweite des tobenden Giganten zu gelangen.
Ein heller, peitschender Knall wehte durch den Raum, gefolgt von einem Aufschrei und einer blitzschnellen Bewegung am Rande von Cards Gesichtsfeld. Er warf sich auf seine am Boden liegende Pistole, fuhr herum, riss die Waffe hoch und drückte ab. Die Kugel verfehlte den Schattenreiter und grub sich splitternd in die Decke.
Aber der Schuss wäre sowieso unnötig gewesen. Der Dämon war mitten in der Bewegung erstarrt. Seine erhobenen Hände sanken kraftlos herab. Die Finger öffneten sich. Der Säbel fiel polternd zu Boden.
Card starrte verblüfft auf das winzige, runde Loch in der Brustpanzerung des Schattenreiters. Der Gigant wankte. Auf seinem Gesicht spiegelte sich ein Ausdruck ungläubiger Verblüffung, während er langsam in die Knie brach und schließlich vornüber fiel. Das gesamte Boot schien unter dem Aufprall des riesenhaften Körpers zu beben.
»Scheint so, als wäre ich heute dazu ausersehen, den Schutzengel für Sie zu spielen«, sagte Kemmler von der Tür her. Seine Stimme schwankte, und sein Grinsen wirkte unecht und aufgesetzt, wie Card zufrieden feststellte. Der Blick des jungen Sergeant irrte immer wieder zwischen dem reglosen Körper des Schattenreiters und Cards Gesicht hin und her.
Card richtete sich schnaufend auf. »Sie hätten sich ruhig ein bisschen beeilen können«, knurrte er, während er über den gefallenen Giganten hinwegstieg und sich der zertrümmerten Koje näherte.
Kemmler japste, und Card drehte schnell das Gesicht weg, damit der Sergeant sein schadenfrohes Grinsen nicht sehen konnte.
»Es macht wirklich keinen Spaß, Katz und Maus mit einem Dämon zu spielen«, sagte Card.
»Aber - ich ...«
Card winkte ab. »Schon gut, Sergeant, helfen Sie mir lieber.«
Er beugte sich über die Liege und begann, den bewusstlosen Boraas aus dem Gewirr von Holztrümmern und zerfetztem Stoff zu befreien.
Der Gigant erwachte stöhnend, als Card seinen Kopf anhob. Seine Augenlider flatterten. Eine riesige Hand legte sich um Cards Oberarm und presste einen Moment lang mit furchtbarer Kraft zu. Card schrie auf und versuchte, sich aus dem Griff des Ex-Dämons zu befreien.
Boraas blinzelte, ließ Cards Arm los und setzte sich stöhnend auf.
»Was is' los?«, lallte er.
»Ich dachte, das könnten Sie mir erklären«, knurrte Card übellaunig. Sein Arm fühlte sich an, als hätte ihn jemand in einen Schraubstock gespannt und mit wachsendem Vergnügen
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