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Raven - Schattenreiter (6 Romane)

Raven - Schattenreiter (6 Romane)

Titel: Raven - Schattenreiter (6 Romane) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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sich hier vor wenigen Minuten abgespielt hatte.
    Stone trat von der Tunnelwand zurück und warf einen letzten Blick in den Stollen. Der Fahrer des zweiten Zuges hatte noch versucht, sein Fahrzeug zum Stehen zu bringen, aber natürlich hatte er es nicht mehr geschafft. Das Einzige, was ihm gelungen war, war, seine Geschwindigkeit so herabzusetzen, dass es nicht zu der absoluten Katastrophe gekommen war. Von den vielleicht dreihundert Menschen, die in den beiden Zügen gesessen hatten, hatten fast alle überlebt.
    Gut. Vielleicht waren selbst diese dreihundert noch zu wenige. Obwohl sie in einigen Stunden sterben würden, war das Leben jedes Einzelnen im Augenblick ungeheuer kostbar.
    Stone überlegte einen Moment, ob er ein paar der schwer Verletzten mitnehmen lassen sollte, verwarf den Gedanken aber fast sofort wieder. Sie würden zu viel Zeit verlieren. Nein - diese dreihundert mussten reichen. Für einen zweiten Versuch blieb keine Zeit. Die Sterblichen waren schwach, aber sie waren nicht dumm. Und sie waren viele, unendlich viele. Stone - oder das Wesen, das von seinem Körper Besitz ergriffen hatte - hatte dies schon einmal zu spüren bekommen, vor langer, langer Zeit.
    Er riss sich aus seinen Gedanken, hob die Taschenlampe und gab das vereinbarte Zeichen. Aus dem Hintergrund des Tunnels antworteten elf weitere Lichtstrahlen. Stone wandte sich um, ließ den Strahl seiner Lampe über die Wand tasten und nickte Eyrec unmerklich zu.
    Der Ghoul trat wortlos an die Wand heran, legte die mächtigen Pranken auf den Stein und begann zu drücken. Er hatte Hut und Mantel abgestreift und jetzt auch den letzten Rest von Menschlichkeit verloren. Seine gigantischen Schultermuskeln spannten sich. Das Gesicht verzerrte sich vor Anstrengung. Die Ziegelsteinmauer ächzte, schien einen Moment zu beben und brach dann mit polterndem Getöse nach innen. Dahinter kam ein schmaler, finsterer Gang zum Vorschein.
    Stone lächelte zufrieden, gab mit seiner Taschenlampe ein zweites Signal und drang hinter dem Ghoul in den Tunnel ein.
    Er drehte sich nicht einmal um, um sich davon zu überzeugen, dass ihm die anderen folgten. Selbst jetzt bedeutete es für das Wesen in ihm nichts, die Geister von dreihundert Sterblichen zu beherrschen. Und bald, dachte er zufrieden, bald würde er so mächtig sein wie früher.
    Er fand Card unten in der Eingangshalle. Der hohe, in spätviktorianischem Stil eingerichtete Raum wimmelte noch immer von Polizisten, sowohl uniformiert als auch Männer in unauffälligem Zivil. Raven hatte Mühe, sich zu Card und Sir Anthony durchzukämpfen.
    Der Inspektor war in ein intensives Gespräch mit dem Politiker vertieft. Raven konnte keine Einzelheiten hören, aber Giffords Gesichtsausdruck nach zu schließen schien sich ihre Diskussion dicht am Rande eines Streites entlangzubewegen - etwas, das Raven bei dem sonst immer so beherrschten und kühlen Anthony Gifford zuallerletzt erwartet hätte. Aber schließlich war Gifford auch nur ein Mensch, und im Moment war er wohl weniger Aristokrat als vielmehr ein Vater, der sich um sein einziges Kind sorgte.
    Raven versuchte vergeblich, Cards Aufmerksamkeit mit Blicken auf sich zu lenken. Der Inspektor sah wohl ein paarmal auf, aber Gifford gab ihm nicht die leiseste Chance, sich irgendwie aus der Affäre zu ziehen. Nach einer Weile begann Raven beinahe, Gefallen an der Szene zu finden. Er hatte Card selten so eingeschüchtert und kleinlaut erlebt wie jetzt.
    Schließlich erlöste einer der Hausdiener den geplagten Inspektor. Er tauchte aus einem der Nebenräume auf, räusperte sich auf jene unnachahmliche, dezent-auffällige Art, zu der nur Butler der absoluten Spitzenklasse fähig sind, und flüsterte Gifford etwas ins Ohr. Gifford sah unwillig auf, runzelte die Stirn und wandte sich mit einem resignierenden Achselzucken um.
    Card atmete demonstrativ auf, als sie allein waren.
    »Das war Rettung in letzter Sekunde«, murmelte er.
    Raven unterdrückte ein schadenfrohes Grinsen. »Was gab es?«
    »Das Übliche«, seufzte Card. »Versuchen Sie mal, einem besorgten Vater klarzumachen, dass Sie nicht die gesamte Army abstellen können, um seine vermisste Tochter zu suchen.«
    »Hat er das verlangt?«
    Zwischen Cards Augen entstand eine steile Falte. »Natürlich nicht«, schnappte er. »Aber fast. Ich würde ihm ja gerne helfen, aber ...« Er seufzte abermals, schüttelte den Kopf und wechselte abrupt das Thema. »Was haben Sie so lange da oben gemacht?«
    »Ich habe etwas gesucht«,

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