Raven - Schattenreiter (6 Romane)
überrascht.
Irgendwie, unbewusst, auf einer Ebene, die dem normalen Denken verschlossen bleibt, hatte er geahnt, dass er etwas Derartiges finden würde. Er hatte es gewusst, ohne es zu wissen.
Der Stein war kein Stein.
Er lebte.
Raven spürte das dumpfe, unsichtbare Pochen magischer Energien, unbeschreiblicher, unverständlicher Kräfte, die in dem schmucklosen grauen Stück Fels eingeschlossen waren. Es war nicht das erste Mal, dass er dieses Empfinden hatte. Er hatte es zum ersten Mal gespürt, als er das verwunschene Schwert König Artus', Excalibur, berührt hatte, und das zweite Mal bei seinem Duell mit dem Assassinen.
Der Stein lebte. Er lag auf seiner Hand, ein starres Stück toter Materie, und trotzdem spürte Raven, wie er pulsierte, wie etwas, irgendetwas, für das es in der menschlichen Sprache keinen befriedigenden Ausdruck gab, nach seinen Gedanken griff und wie eine tastende unsichtbare Hand über seine Seele strich ...
Es fiel Raven schwer, sich aus dem Bann zu lösen. Er schloss die Faust um den Stern, steckte ihn rasch in die Tasche und wandte sich um, um ins Erdgeschoss hinunterzugehen.
Stone nahm die Hand langsam vom Fahrtenregler, überzeugte sich mit einem raschen Blick davon, dass sämtliche Aggregate des Zuges abgeschaltet und die Instrumente auf null standen, und trat vom Steuerpult zurück. Die Fahrerkabine war nur vom schwachen Widerschein des Instrumentenpultes erleuchtet, aber der Mann schien auch im Dunkeln sehen zu können.
Rasch und ohne zu zögern bewegte er sich zur Tür, stieß sie auf und sprang mit einem federnden Satz auf den Gleiskörper hinunter. Eine zweite, kleinere, massige Gestalt folgte ihm. Ansonsten schien der Zug wie ausgestorben. Die Lichter hinter den Fenstern waren erloschen, aber die Menschen im Zug schienen nichts davon bemerkt zu haben. Starr und reglos, wie lebensgroße Puppen, saßen sie auf ihren Sitzen, die Augen geschlossen, betäubt.
Stone lächelte matt. Trotz der Kälte hier unten war er in Schweiß gebadet. Seine Stirn glitzerte feucht, und seine Hände zitterten. Es war nicht leicht, so viele Menschen geistig zu beeinflussen, nicht einmal für ihn.
Aber es würde nicht mehr lange dauern.
Er schob den Hemdsärmel zurück, sah auf die Uhr und starrte dann den Tunnel hinab. Das hintere Ende des U-Bahn-Zuges verschwand bereits in der Dunkelheit, und nicht einmal seine überscharfen Sinne reichten aus, mehr als wirbelnde Schatten zu erkennen.
Die ausgefahrenen Schienen unter seinen Füßen begannen zu vibrieren. Stone runzelte die Stirn und sah abermals auf die Uhr. Es war zu früh. Fast zwei Minuten zu früh.
Hastig trat er vom Zug zurück, gab seinem unheimlichen Begleiter einen Wink, es ihm gleichzutun, und wich, den Blick noch immer starr in den Tunnel gerichtet, bis zur Stollenwand zurück.
Das Geräusch nahm zu. Zuerst war es nur ein tiefes Summen, aber es wuchs rasch heran, wurde lauter und entpuppte sich als das Rattern eines heranbrausenden Zuges.
Stones Lächeln wurde eine Spur breiter. Mit einem Male veränderte sich das Geräusch, wurde schriller, unregelmäßiger, von einem harten, klirrenden Stampfen unterbrochen, als der Zug mit viel zu hoher Geschwindigkeit in die Weiche hineinraste, beinahe aus den Schienen sprang und sich, durch seinen eigenen Schwung vorwärtsgerissen, wieder fing.
Am hinteren Ende des Tunnels erschienen die grellen Kreise zweier aufgeblendeter Scheinwerfer. Funken stoben auf. Die Metallräder der U-Bahn begannen zu kreischen, als der Fahrer endlich die Gefahr erkannte und zu bremsen versuchte.
Er schaffte es nicht.
Der Zug raste heran, jagte wie ein gigantisches schlankes Geschoss durch den Tunnel. Für einen Moment tauchten die Lichtkegel seiner Scheinwerfer das Heck des ersten Zuges in schattenlose, weiße Helligkeit, und Stone glaubte fast, das schreckverzerrte Gesicht des Fahrers hinter der Frontscheibe zu erkennen.
Ein berstender Schlag löschte die Scheinwerfer, die Zugbeleuchtung und das Motorengeräusch gleichzeitig aus. Die beiden Züge bohrten sich mit ungeheurer Wucht ineinander. Das Vorderteil des auffahrenden Triebwagens rammte in das Heck des ersten Zuges, schob den hinteren Wagen zusammen, als bestünde er aus Papier statt aus massivem Metall, und wurde selbst zermalmt. Eine grelle Stichflamme schoss aus dem Wrack, züngelte gegen die Decke und erlosch.
Menschen schrien, aber ihre Schreie gingen unter im Kreischen zerbrechenden Metalls und dem hellen, nicht enden wollenden Klirren
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